Und schon wieder: Schilder in den Supermärkten, die um Kaufzurückhaltung bitten und Mengen begrenzen: »Nur zwei Flaschen Öl pro Haushalt, nur zwei Packungen Mehl pro Einkauf.« Wieder machen sich Ängste breit, klaffen Lücken in den Regalen. Schließlich wird die Ukraine auf unabsehbare Zeit ausfallen, wenn es um Lebensmittelimporte wie Weizen oder Sonnenblumenkerne geht. Mal ehrlich: Wer wusste vor dem Überfall Putins auf die Ukraine, dass das Land ein wichtiger Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist, wegen der fruchtbaren Böden und der riesigen Felder gar als »Kornkammer Europas« gilt? Nahrungsmittel sind in normalen Zeiten nach Eisen und Stahl das zweitwichtigste Exportgut der Ukraine. Die Ackerflächen des Landes entsprechen gut einem Viertel der Flächen, die es in der gesamten EU gibt. Neben Weizen exportiert das Land auch Mais, Gerste, Raps und Sonnenblumenöl – nicht nur nach Deutschland und in andere europäische Länder, sondern auch in viele andere Teile der Welt. Der Krieg zerstört nicht nur Anbau und Ernten, sondern auch Straßen, Häfen, Eisenbahnstrecken. Wann die Warenflüsse wieder in Gang kommen, steht in den Sternen. Aufgrund der internationalen Sanktionen entfallen auch Lieferungen aus Russland, das normalerweise ebenfalls Getreide und Co. Nach Europa exportiert.
Hauptsache sicher und bezahlbar
Kein Wunder also, dass so schnell die Frage aufkam, ob Deutschland und Europa sich nicht nur im Energiesektor, sondern auch im Nahrungsmittelbereich unabhängiger machen sollten, sowohl von anfälligen Lieferketten und unberechenbaren globalen Entwicklungen. Sorge bereitet übrigens auch der steigende Preis für konventionelle Düngemittel. Die Preise von Stickstoff-Dünger sind eng an die Energie- bzw. Gaspreise gekoppelt, denn die Produktion ist sehr energieintensiv. Wenn weniger gedüngt wird, fallen in der konventionellen Landwirtschaft auch die Ernteerträge geringer aus. Auch dadurch könnten Lebensmittel künftig knapper und teurer werden. Der aktuell fühlbare Anstieg der Lebensmittelpreise hat vor allem mit den extrem gestiegenen Energiekosten zu tun – Gemüseanbau in beheizten Gewächshäusern und die Transportwege für Futter- und Lebensmittel schlagen sich im Preis nieder.
Umwelt- und Klimaschutz: bitte hinten anstellen
Schließlich wollen wir doch alle ausreichend und bezahlbare Lebensmittel. Also: Sollten wir jetzt nicht besser den Umbau hin zu einer nachhaltigeren und klimaschonenden Landwirtschaft zurückstellen? Eigentlich sollte sich die mit der sogenannten Farm-to-Fork-Strategie (übersetzt etwa: vom Hof auf den Tisch) in eine nachhaltigere Richtung bewegen. Tatsächlich ist es die gesamte zukünftige Agrarpolitik der EU, die auf dem Prüfstand steht. Das Gezerre ist in vollem Gange: Ende März verschob die EU-Kommission einen ursprünglich vorgesehenen Vorschlag für eine Gesetzesänderung zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden auf unbestimmte Zeit. Kurz davor war bereits das Renaturierungsgesetz von der Tagesordnung genommen worden. So soll es möglich sein, Brachflächen, die wertvolle Rückzugsgebiete für viele Tier- und Pflanzenarten und deshalb wichtig für die Artenvielfalt sind, wieder landwirtschaftlich zu nutzen – inklusive Düngung und Pestizideinsatz. Der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Die Grünen) hält (noch) dagegen. Er will in Deutschland den Anbau von Futtermittelpflanzen auf diesen sogenannten ökologischen Vorrangflächen nur ausnahmsweise und vorübergehend zulassen, und das nur ohne mineralischen Dünger und Pflanzenschutzmittel. Getreideanbau mache dort ohnehin keinen Sinn, rechnet Özdemir vor: All diese Flächen zusammen würden maximal 600.000 Tonnen Getreide liefern. Eine Menge, die nach viel klingt, angesichts der gesamten deutschen Jahresernte von 45 Millionen Tonnen aber kaum ins Gewicht fällt. Man dürfe, warnt Özdemir unaufhörlich, den Krieg nicht gegen die Klimakrise ausspielen.
Ernährungssicherheit ist globales Thema
In Teilen von Politik und Gesellschaft klingt es so, als seien Klimawandel und Verlust der Artenvielfalt Probleme, die wir erst einmal vernachlässigen können, weil wir dringlichere haben. Das ist leider nicht so. Gerade hat der Weltklimarat (IPCC) unmissverständlich und mit deutlichen Worten zu schnellem Handeln aufgefordert: Sonst sei es nämlich nicht mehr möglich eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern. Schon jetzt ist, so der IPPC fast die Hälfte der Menschheit durch den Klimawandel »hochgradig gefährdet«. Zum Beispiel in Afrika: Im Norden Kenias, in Somalia und Äthiopien sind drei Regenzeiten ausgeblieben. Es gibt kein Wasser für die Felder mehr, Ernten fallen aus, Vieh verendet. Am Horn von Afrika sind nach Angaben des UN-World Food Programms schätzungsweise 13 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht: nicht aus eigenem Verschulden, sondern durch die klimatischen Veränderungen. Der Krieg in der Ukraine wird diese Hungerkrise noch verschärfen, denn der allergrößte Teil des importierten Weizens in Ostafrika kam bisher aus der Ukraine oder aus Russland. Jetzt fehlt nicht nur dieses Getreide, auch die Weltmarktpreise steigen.
Klimaschutz ist also kein Luxus – und ein »Weiter-wie-bisher« keine Lösung.
Klimakrise gefährdet Ernährungssicherheit
Ernährungssicherheit ist also tatsächlich ein wichtiges Thema, aber nicht in erster Linie ein nationales oder europäisches, sondern ein globales. Und sie wird nicht durch den Ukraine-Krieg allein gefährdet, sondern durch den Klimawandel – und eine ungerechte Verteilung, was (mindestens) einen Artikel für sich allein beanspruchten würde. Klimaschutz ist also kein Luxus – und ein »Weiter-wie-bisher« keine Lösung.
Nächste Frage: Gibt es Strategien, die zur weltweiten Ernährungssicherheit beitragen, uns unabhängiger von anfälligen globalen Lieferketten machen, dabei ökologischen Anforderungen gerecht werden und gleichzeitig die Lebensmittelpreise auf einem bezahlbaren Niveau halten könnten?
Nachhaltige Strategien nutzen
In der Erklärung »Wir brauchen eine Ernährungswende – angesichts des Kriegs in der Ukraine jetzt mehr denn je« stellen Mediziner:innen, Klimaforscher:innen und Agrarwissenschaftler:innen drei Handlungsansätze vor, mit denen aktuelle Nahrungsmittelkrisen bewältigt werden könnten und die dabei den langfristigen Nachhaltigkeitszielen gerecht werden: Erstens, eine verstärkt pflanzlich ausgerichtete Ernährung. Sie wäre nicht nur gesünder, sondern würde Lebensmittel auch effektiver nutzen, wenn Getreide und Soja nicht als Tierfutter genutzt, sondern direkt verspeist werden. Zweitens, mehr Leguminosen anbauen. So ließe sich die Abhängigkeit von energieintensivem Stickstoffdünger verringern und gleichzeitig die Bodenqualität verbessern. Und drittens, Lebensmittelabfälle und ‑verluste deutlich reduzieren – insgesamt zirka 12 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich werden in Deutschland laut einer Studie von 2019 entsorgt und nicht verzehrt.
Getreide landet im Tier und im Tank
In der aktuellen Krise wird Mehl gehamstert, machen sich Menschen Sorgen, dass Brot oder Nudeln knapp werden könnten. Allerdings: »Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass Europa tatsächlich zwei Drittel seines Getreides in den Futtertrog wirft und nur ein kleinerer Teil davon der menschlichen Ernährung dient. Hinzu kommt, dass wir vor allem in Deutschland eine erhebliche Fläche für die Produktion von Agrotreibstoff verwenden«, sagt Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament. Eine kurzfristig wirksame Stellschraube sei vor allem das Umlenken der bisherigen Produktion von Agro-Sprit in die Erzeugung von Lebensmitteln. Weniger Getreide an Schweine, Rinder und Hühner zu verfüttern, sei eher eine langfristige Maßnahme – die aber auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung und der Bekämpfung des Klimawandels unbedingt notwendig sei. In einem »Factsheet zu Ukraine-Krieg & Versorgungssituation«, das Häusling gemeinsam mit Renate Künast von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen am 22. März veröffentlicht hat, heißt es: »Fast eine halbe Million Hektar belegen die Agrarflächen für Agrokraftstoff allein in Deutschland – das entspricht knapp der doppelten Fläche Luxemburgs. Zusätzlich importiert Deutschland pflanzlichen Kraftstoff in großen Mengen aus dem Ausland, so dass weltweit über 1,2 Mio. Hektar der Produktion von Agrokraftstoff für deutsche Tankstellen dienen.« Dabei zeige eine neue Studie des ifeu-Instituts im Auftrag der Deutschen Umwelthilfe, dass Agrokraftstoffe aus Nahrungs- und Futtermittelpflanzen (Raps, Getreide und Zuckerrüben) dem Klima mehr schadeten als nützten. Warum also nicht diese Flächen für die Ernährungssouveränität oder gar die globale Ernährungssicherheit nutzen? »Ein Umsteuern in der Agrokraftstofferzeugung ist ein effektiver Hebel, um kurzfristig in erheblichem Umfang Flächen und Mengen an Getreide und Mais zur Lebensmittelversorgung freizusetzen«, heißt es in dem Papier.
Eine klimaschonende und umweltfreundlichere Landwirtschaft steht also überhaupt nicht im Widerspruch zu dem Streben nach mehr Unabhängigkeit und Ernährungssicherheit. Es müssen nur neue Wege gegangen und Veränderungen in Kauf genommen werden. Aber das wären geplante Richtungskorrekturen und nicht verheerende Ereignisse, wie sie uns ein außer Kontrolle geratener Klimawandel bescheren könnte.
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→ Birgit Schumacher
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 95 — Sommer 2022