»Leben beginnt an dem Tag, an dem du einen Garten anlegst«, das steht auf einem kleinen Holzschild, das Christian Lellinger, 33, vor einiger Zeit an einer Weggabelung aufgestellt hat. Er liest den Satz laut vor, lächelt und biegt links auf einen Pfad ab, der einen Hügel hinauf führt. Auf den Bäumen glitzert der Frost in der Morgensonne. Ein großer Ast liegt auf dem Boden. »Holz für unsere Benjeshecke, da freuen sich die Kinder«, sagt der kräftig gebaute Mann mit Vollbart. Nach wenigen Metern gelangt er an ein altes Gartentor und öffnet ein Hängeschloss. Dahinter erstreckt sich auf 2000 Quadratmetern der Lebenstraum der Familie Lellinger: Der Garten, der die fünfköpfige Familie mit Gemüse, Obst, Kräutern, Nüssen und Honig versorgt.
Zehn Prozent Selbstversorgung = eine Arbeitsstunde pro Tag
»Wir sind moderne Selbstversorger«, sagt Christian Lellinger, der im Garten erst mal tief durchatmet, »ich glaube, es ist in den Menschen drinnen, unabhängig zu sein, frei zu sein, auch wenn man etwas macht, das anstrengend ist.« Für zehn Prozent Selbstversorgung brauche man etwa eine Arbeitsstunde täglich – pro Person. »In einer Familie mit drei Kindern und berufstätigen Eltern gibt es vieles im Überfluss, Zeit ist es meist aber nicht.« Im Durchschnitt können sie momentan etwa 20 Prozent selbst leisten, »den Rest kaufen wir dazu und verarbeiten es auf althergebrachte Weise weiter.« Jeden Monat bekommen sie zehn Kilo Getreide von einem Biohof geliefert. Ihr Brot backen sie mit Sauerteig.
»Man muss gucken, was heute möglich ist. Der Kompromiss, dieser Spagat ist unheimlich schwer.« Und er gelingt auch bei Familie Lellinger nicht immer. Christian Lellinger arbeitet Vollzeit als Palliativberater, seine Frau Nicole halbtags als Schulsozialarbeiterin. Wenn am Tag die Zeit fehlt, kaufen auch sie abends ihr Brot beim Bäcker. In ihrem Garten gibt es hingegen keine Kompromisse: Sie verzichten gänzlich auf Kunstdünger oder chemische Pflanzenschutzmittel und achten auf das ökologische Gleichgewicht ihres Naturgartens. Nackte schwarze Böden und starre Reihen gibt es in dem Garten nicht. Alles wächst wild durcheinander und doch nach einem Plan. Christian Lellinger hat den Garten nach den Prinzipien der Permakultur gestaltet, die einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur fordert – den Kreisläufen der Natur entsprechend.
Den Wert der Dinge erkennen
Und der Plan scheint aufzugehen, denn die Vielfalt im Garten ist enorm. Tomaten, Gurken, Paprika, Zucchini, Kürbisse, Erbsen, Bohnen, Mais – sogar Chilis konnten sie schon ernten. Neben den zahlreichen Gemüsesorten gibt es auch diverse Kräuterpflanzen, ein kleines Getreidefeld, dazu eine Streuobstwiese, auf der neben dem alten Bestand auch zwanzig neue Bäume gepflanzt wurden. Gleich daneben haben vier Bienenvölker ihr Zuhause. »Die Arbeit im Garten ist sehr viel anstrengender als die Fahrt in den Supermarkt. Aber so kenne ich den Wert der Dinge, den die Preise unserer Lebensmittel längst nicht mehr widerspiegeln.«
Nachbarschaftsnetzwerke bilden
Auf einem Beet liegt Schafwolle. »Sie ist ein natürlicher Stickstoffspeicher. Darunter ist der schöne gemulchte Boden«, sagt Christian Lellinger und schiebt die Wolle mit der Hand zur Seite, »da heißt es immer, der Boden hier wäre lehmig. Aber hier kommt man wunderbar rein, ganz locker, ganz leicht liegt das nur auf.« Die Wolle hat der Familienvater von einem Nachbarn, der sie nicht mehr haben wollte. »Die scheren die Schafe und schmeißen die Wolle sonst weg oder müssten sie entsorgen.« Das Netzwerk in der Nachbarschaft funktioniert gut. Sogar eine eigene Whatsapp-Gruppe gibt es: den Fairteiler.
»Wir haben unseren Anhänger fast dauerhaft verliehen, weil es immer jemanden gibt, der ihn braucht.« Christian Lellinger ist in Halle geboren und aufgewachsen. Schon als Stadtkind faszinierten ihn Pflanzen, vor allem Heil- und Wildkräuter. Mit zwölf Jahren zog er aufs Land, durfte die Hühner der Nachbarn hüten, wenn sie im Urlaub waren. »Während meines Studiums in Jena lernte ich Nicole kennen, die in der Thüringer Rhön, südlich von Eisenach, aufgewachsen ist.« Gemeinsam zog das Paar nach Halle, wo Christian eine Ausbildung zum Krankenpfleger machte. »Zur gleichen Zeit wuchs in mir der Wunsch nach harmonischem Ausgleich zur schweren Arbeit: eigenes natürliches Grün.« So pachteten sie einen Schrebergarten. Doch schnell war klar: Sie brauchen mehr Platz, um sich selbst versorgen zu können.
Einkochen, Trocknen, Dörren
Das gut 150 Jahre alte Bauernhaus in Oechlitz, das die Familie samt Stall und Hof 2016 gekauft hat, steht nur fünf Gehminuten vom großen Hausgarten entfernt. Hinter dem Wohnhaus gackern die Hühner. In der kalten Jahreszeit greift die Familie auf die Vorräte zurück, die sie im Laufe des Jahres geerntet und haltbar gemacht hat. Im Wohnzimmer hat Nicole Lellinger, 30, die gerade ihr viertes Kind erwartet, diverse Einmachgläser auf den langen Holztisch gestellt. Eingemachte Birnen, Walnüsse in Honig, Sauerkraut, Salsa-Sauce, Kohlsuppe. Auch ein Glas mit Aprikosenmarmelade steht auf dem Tisch.
»In Querfurt gibt es einen Obsthof, der recht günstig Fallaprikosen verkauft.« Da sind die Marmeladengläser für wenig Geld schnell gefüllt. Nicole Lellinger greift eine Glasflasche und hält sie gegen das Licht, »hier haben wir Kräuter, Wasser, Zucker und ein bisschen Zitrone angedickt und gekocht.« Schon war der eigene Sirup fertig. Sie blickt auf die Flasche und lächelt, »es ist ein bisschen so, als hätten wir den Sommer eingefangen und in ein Glas gesperrt, um ihn auch im Winter am Tisch zu haben.«
»Die Internetbauern«
Vieles von dem, was sie wissen, hat das Paar aus Büchern oder dem Internet. »Ein Nachbar, der später unser Freund wurde, hat mal gesagt, dass wir die Internetbauern sind«, sagt Christian Lellinger, »doch im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass der Nachbar zwar wusste, wie man Wurst macht, aber von der Herstellung von Ziegenkäse keine Ahnung hat.« Im Gegensatz zu Christian. »Da habe ich ihm gesagt: Das hat der Internetbauer aus dem Internet.« Der Familienvater lacht laut auf. »Menschen, die mit uns zu tun haben, merken, dass wir es ehrlich meinen. Ich achte bewusst darauf, dass nicht der Eindruck entsteht, ich hätte die Weisheit gepachtet. Man erschließt sich Neuland und lässt andere teilhaben.« Und so gibt das Ehepaar sein Wissen über die Selbstversorgung in Seminaren weiter. »Das Wissen geht sonst verloren. Es braucht Menschen, die das bewahren«, sagt Christian Lellinger. Die Teilnehmer kommen meist aus den Städten im Umland: Leipzig, Erfurt, Halle, Weimar.
Ressourcen kreativ nutzen
»Wichtig ist uns, dass alles, was wir machen, ganz zwanglos ist, dass es praktisch nebenher läuft«, sagt Nicole Lellinger und blickt auf die Tasse Tee in ihren Händen, »warum sollte ich Pfefferminztee im Beutel kaufen, wenn ich die Melisse im Garten stehen habe? Gerade wenn ich sehe, was die gekauften Sachen an Müll mit sich bringen.« Auch matschiges Obst landet bei Familie Lellinger nicht im Abfall, »denn daraus kann ich immer noch Smoothies oder Fruchtleder für die Kinder machen.« Und auch die Putzmittel stellt sie selbst her, »im Winter haben wir Orangen bestellt, direkt vom Erzeuger. Sie kamen im Pappkarton. Die Schalen habe ich in Essig einlegt und Putzmittel daraus gemacht.« Und ihr Mann ergänzt, »und den Essig kann ich aus altem Saft machen.« Auch Seifen, Badesalz, Cremes und sogar Deos stellen sie selbst her. Vieles ist schneller gemacht als gedacht. »Wir haben einen Walnussbaum im Garten. Wenn ich die Walnusshälften nehme, Bienenwachs reintue und einen Docht häkele, habe ich ein Teelicht, das keine Aluschale braucht«, sagt Nicole Lellinger.
»Man lebt ja trotzdem in der Welt«
Anderes sei sehr viel aufwendiger, beispielsweise die Herstellung von Käse. »Wir mussten uns um die Ziegen im Stall kümmern, sie melken, den Käse herstellen. Da haben wir erstmal gemerkt, wie viel Zeit und Arbeit hinter so einem Stück Käse steckt. Dieses Bewusstsein macht was mit einem.« Auch Fleisch landet von Zeit zu Zeit auf dem Tisch der Lellingers, jedoch in Maßen – aus Respekt vor dem Tier und aufgrund der Entscheidung über Leben und Tod, die jeder Schlachtung vorangeht. »Nach dem Schlachten unserer Lämmer hatten wir zwanzig Salamis. Wir haben von vornherein gesagt, die teilen wir uns ein, essen eine im Monat.« Momentan ist der Stall hinter dem Haus verwaist, es fehlt an Weidefläche. »Wenn wir Tiere halten, muss es artgerecht sein. Wir wollen keine Selbstversorgung um jeden Preis«, sagt Christian Lellinger, »und es ist auch viel billiger, direkt das Gemüse zu essen, anstatt es erst zu verfüttern und dann das Fleisch zu essen.«
Und wenn die Zeit mal nicht reicht? Oder der jüngste Sohn Hunger auf seine geliebten Bananen bekommt? Dann halten die Eltern nach der Arbeit beim Supermarkt an. »Da kann mir keiner erzählen, dass er den Spagat nicht gehen muss. Man lebt ja trotzdem in der Welt. Das fängt damit an, dass wir Geld benötigen, allein für das Haus«, sagt Christian Lellinger und seine Frau ergänzt, »die moderne Selbstversorgung ist in der Heutezeit angekommen. Wir haben unsere Werte und Prinzipien, aber trotzdem sind wir nicht bestrebt, die Aussteiger zu sein. Das wäre mit drei Kindern auch nicht praktikabel.«
→ Kristin Kasten
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 86 — Frühjahr 2020