Die Vögel zwitschern, die Blätter rauschen. Die Luft ist klar und kühl, hier und da blitzt die Sonne durch die Bäume. Es riecht aromatisch nach Erde, Moos und Laub, der Boden ist weich und lässt die Schritte federn: Im Wald spazieren zu gehen, tut Körper und Geist gleichermaßen gut: Der Blutdruck fährt runter, Stress fällt ab. Der Mensch kommt zur Ruhe, schaltet ein paar Gänge runter – entschleunigen nennt sich das heute. Vorbei die Zeiten, in denen der Wald als finster und gefährlich galt, als unheimlicher Ort, an dem sich wilde Tiere, Räuber, Hexen und Fabelwesen verbergen. Heute ist der Wald ein Sehnsuchtsort geworden, an dem man sich der Natur nahe fühlen kann.
Offener Wald für alle
Angesichts der neuen Liebe zum Wald ist es natürlich nicht schlecht, dass Deutschland mit rund 11,4 Millionen Hektar Wald zu den waldreichen Ländern der Europäischen Union gehört. Insgesamt ist etwa ein Drittel des gesamten Landes mit Wald bedeckt. Besonders waldreich sind Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland, wo es sogar mehr als 40 Prozent sind. Nur wenig Waldfläche gibt es in Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg. Und obwohl wir gerne von »unseren Wäldern« reden, die es zu schützen gelte, sieht das in der Realität ganz anders aus: Fast die Hälfte der Flächen (48 Prozent) befindet sich in Privatbesitz. 33 Prozent sind Staatswald, gehören also den Ländern oder dem Bund. Die restlichen 19 Prozent sind Eigentum von Kommunen oder Kirchen, sie werden als Körperschaftswald bezeichnet.
Aber immerhin: Der Wald steht prinzipiell allen offen. Das regelt Paragraph 14 des Bundeswaldgesetzes: »Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet« – allerdings auf eigene Gefahr. Wandern, Pilze sammeln, Bäume umarmen oder den Stimmen der Natur lauschen: Zum Glück vieler ist das alles überall erlaubt.
Wald ohne Idylle
Doch ganz so idyllisch, wie es manchmal anmutet, ist der Wald nicht. 355.000 Hektar des deutschen Waldes gelten als »Waldfläche mit natürlicher Entwicklung«, sind also sozusagen Urwälder, in denen Menschen nicht eingreifen. Das klingt nach einer Menge, tatsächlich sind es aber nur 3,1 Prozent der Gesamtfläche. Die bereits 2007 von der Bundesregierung beschlossene »Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt« sah vor, dass es im Jahr 2020 fünf Prozent sein sollten: Ein Ziel, das klar verfehlt wurde. Und es sieht auch nicht danach aus, als ob sich das bald ändern würde. Und das, obwohl sogar sogenannte »waldfähige Standorte«, die der Natur überlassen werden, zum Beispiel ehemalige Truppenübungsplätze, in die Zahlen mit eingerechnet werden.
Rohstoff Holz
Rückzugs- und Erholungsort für Naturliebhaber:innen oder gar Pflanzen und Tiere zu sein: Das ist, wenn es um Wald geht, eher ein Nebeneffekt. Wald ist vor allem ein Wirtschaftsfaktor. Kaum ein Rohstoff ist so vielseitig einsetzbar wie Holz: als Baumaterial für Dachstühle, den Carport oder das Schrebergartenhäuschen, für Zäune, Parkettfußboden oder Möbelstücke, verarbeitet zu Papier oder Pappe und nicht zuletzt als Scheite, Hackschnitzel oder Pellets zum Heizen. Der Trend zu nachwachsenden Rohstoffen verstärkt die Nachfrage. Jedes Jahr werden große Mengen an Bäumen gefällt und weiterverarbeitet. Zwischen 50 und 60 Millionen Kubikmeter Holz sind es normalerweise pro Jahr, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes verraten.
Nachhaltigkeit: Hier kommt’s her
Dagegen ist ja auch erst mal nichts einzuwenden, schließlich ist Holz ein nachwachsender Rohstoff. Der heute allgegenwärtige Begriff »Nachhaltigkeit« stammt sogar aus der Forstwirtschaft: Er wurde bereits Anfang des 18. Jahrhunderts von Hans Carl von Carlowitz geprägt. Der war Oberberghauptmann im Erzgebirge und erlebte damals hautnah den Raubbau am Wald für den sächsischen Bergbau. Um den Holzbedarf auch für die Zukunft weiter zu sichern, forderte Carlowitz in seinem Werk »Sylvicultura Oeconomica« schon 1713, dass Bäume nicht nur gefällt, sondern auch neu angepflanzt werden müssten, damit es eine »continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe«. Viel Erfolg hatte seine Warnung vor einer Übernutzung der Wälder nicht: Noch für lange Zeit wurde einfach weiter abgeholzt.
Stangenforst als leichtes Opfer
Heute schreibt sich die Forstwirtschaft in Deutschland den Slogan »Vorausschauend aus Tradition« auf die Fahnen respektive auf die Webseite. Und sorgt schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse dafür, dass immer genug Holz nachwächst. Allerdings wurden jahrzehntelang vor allem Fichten gepflanzt, weil die schnell starke Stämme entwickeln und von der Industrie gut zu verarbeiten sind. Die beliebten Nadelbäume kamen dabei auch an Standorte, wo sie eigentlich nicht hingehören: in niedrige Höhenlagen unter 500 Meter beispielsweise oder an sonnenexponierte südliche Hanglagen. Genau das wurde diesen Fichtenwäldern, im Volksmund auch Stangenforst genannt, nun nach den drei sehr trockenen und heißen Sommern in den Jahren 2018 bis 2020 zum Verhängnis. Die Fichten starben großflächig ab, weil sie als Flachwurzler nicht mehr genug Wasser aus dem Boden ziehen konnten. Der Borkenkäfer, der sich bei hohen Temperaturen besonders wohl fühlt, tat ein Übriges. Die Schäden waren und sind immer noch selbst für Laien mit bloßem Auge zu erkennen. Grau-braun zeichnen sich die vertrockneten Fichten, die noch nicht entnommen wurden, von den anderen Bäumen ab. In manchen Gegenden, zum Beispiel im Harz, ist das Ausmaß des Kahlschlags erschreckend.
Nur noch 21 Prozent der Waldbäume gesund
Aber auch bei anderen Baumarten zeichnen sich deutliche Schäden ab. Der jährlich erscheinende Waldzustandsbericht vermeldete Anfang 2021, dass nur 21 Prozent der untersuchten Bäume noch ohne Kronenschäden sind. Bei den anderen 79 Prozent lassen sich mittlere bis deutliche Kronenverlichtungen feststellen – ein Alarmzeichen, weil Bäume von oben her sterben. Also: Der Wald ist in Not. Und mit ihm nicht nur Waldbesitzer:innen und holzverarbeitende Betriebe, deren wirtschaftliche Grundlage gefährdet ist, sondern wir alle.
Wälder für den Klimaschutz
Denn der Wald spielt nicht nur für unsere Erholung eine wichtige Rolle, sondern auch fürs Klima. Bäume brauchen CO2 zum Wachsen und speichern den Kohlenstoff in ihrem Holz. Gleichzeitig produzieren sie quasi als Abfallprodukt der Photosynthese den für alle Lebewesen so wichtigen Sauerstoff. Wälder sind damit wichtige CO2-Senken – aber sie sind es eben nur dann dauerhaft, wenn mehr Holz nachwächst als genutzt wird. Und genau hier wird es langsam kritisch, warnt das Umweltbundesamt: Die Holzentnahme liege auf einem sehr hohen Niveau. Kämen dann noch, wie beispielsweise 2018, Stürme, Trockenheit und Schädlinge dazu, werde mehr Holz aus dem Wald geholt als rechnerisch netto zugewachsen ist.
»Ein komplexes Ökosystem«
Und so sind wir wieder bei der alten und immer noch aktuellen Forderung von Hans Carl von Carlowitz nach einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung. Die aber muss in Zeiten des Klimawandels mehr berücksichtigen als ausreichende Neuanpflanzungen. Umweltverbände wie der WWF fordern nichts weniger als einen langfristigen Umbau hin zu einem naturverträglichen Laubmischwald mit heimischen Arten: »Wir müssen den Wald wieder als ein komplexes Ökosystem begreifen und nicht als reinen Holzlieferanten«, sagt Dr. Susanne Winter, selbst Forstwissenschaftlerin und Programmleiterin Wald beim WWF. »Der Wald braucht einen Teil des Zuwachses für sich selbst, er braucht mehr alte Bäume, mehr wasserspeicherndes Totholz. Deshalb müssen wir den Begriff der forstwirtschaftlichen Nachhaltigkeit neu definieren.«
»Wir müssen den Wald wieder als ein komplexes Ökosystem begreifen und nicht als reinen Holzlieferanten.«
Damit Waldbesitzer den Wald naturnäher bewirtschaften und trotzdem noch Geld verdienen können, fordert der WWF finanzielle staatliche Unterstützungen im Gegenzug für ökologische Leistungen. Diese sollten im Bundeswaldgesetz beschrieben werden und an die FSC-Zertifizierung (Forest Stewardship Council) anknüpfen. Zwar gibt es auch am FSC Kritik, zum Beispiel weil auch Holz aus Regenwäldern FSC-zertifiziert werden kann, dennoch: »Trotz mancher Mängel steht das FSC-Zertifikat für eine verantwortungsvollere Waldwirtschaft, so dass oberhalb dieser Anforderung ein staatliches Förderprogramm ansetzen könnte«, findet Susanne Winter.
Öko-Wald mit Siegel?
Bislang sind lediglich 12 Prozent der deutschen Waldfläche FSC-zertifiziert. Dazu zählen auch die 19 Forste, die zusätzlich das Naturland-Siegel tragen. Als einziger ökologischer Anbauverband vergibt Naturland schon seit 1995 sein Siegel auch für Waldbetriebe. Das Interesse hält sich bislang in Grenzen: Zertifiziert sind vor allem Stadtwälder. Gemeinsam kommen sie auf eine Waldfläche von knapp 56.000 Hektar, das entspricht etwa 0,5 Prozent des deutschen Waldes. Immerhin 68 Prozent der deutschen Waldflächen sind gemäß PEFC (Programme for the Endorsement of Forest Certification) zertifiziert. Das PEFC-Zertifikat ist bislang die Bedingung dafür, staatliche Zahlungen zu erhalten. PEFC steht nach eigenen Angaben ebenfalls für eine nachhaltigere Bewirtschaftung. Allerdings sind die zu erfüllenden Kriterien deutlich schwächer: Die Siegelvergabe erfolgt auf Basis einer Selbstauskunft, Kontrollen erfolgen nur stichprobenartig.
Heimischer Laubmischwald für Artenvielfalt
Wie auch immer das Ziel erreicht wird, für Susanne Winter ist klar: »Wir brauchen widerstandsfähigere Wälder, aber dabei muss der ökologische Anspruch im Vordergrund stehen.« Sie berichtet, dass viele, vor allem private Waldbesitzende, in Bäume investieren wollten, die mit Trockenperioden besser klar kommen, zum Beispiel Nordamerikanische Douglasien oder Japanische Lärchen. »Diese Bäume sind bei uns aber nicht heimisch und bieten nicht den richtigen Lebensraum für unsere Waldpflanzen, ‑pilze und ‑tiere.« Der WWF plädiert für heimische Laubmischwälder, bei denen Buchen die Hauptrolle spielen. Denn mit Buchen steige der Grundwasserspiegel merklich. Die Erklärung für dieses Phänomen ist so simpel wie einleuchtend: Buchen recken ihre Äste V‑förmig nach oben. Wenn es regnet, fließt das Wasser so schneller zum Stamm und an dessen glatter Rinde hinunter zum Boden. Und im Winter fällt zusätzlich der Regen durch die nicht mehr belaubte Krone.
Zu schade für Taschentücher
Wie könnte, wie sollte der Umbau der Wälder aussehen, damit sie ihre Aufgaben erfüllen und dem Klimawandel standhalten können? Längst wird gefordert, eine Zukunftskommission Wald einzusetzen, die alle Interessengruppen an einen Tisch bringt und nach einem gemeinsamen Weg sucht. Eines aber ist bereits jetzt klar: Wenn es gelingen soll, die ökologischen, ökonomischen und sozialen Funktionen des Waldes in einen harmonischen Dreiklang zu bringen, werden sich auch die Verbraucher:innen umstellen müssen. »Holz ist natürlich ein nachhaltiges Material, aber nur, wenn es zu langlebigen Produkten verarbeitet wird. Viel zu viel Holz wird nur energetisch oder kurzfristig genutzt, zum Beispiel als Brennholz, Papier oder Pappe«, kritisiert Susanne Winter vom WWF. »Warum nicht ein Wischtuch nehmen statt der Küchenrolle, Stoff- statt Papiertaschentücher?« Auch der boomende Online-Markt, der riesige Mengen an Verpackungsmaterial aus Pappe und Papier verschlingt, macht ihr Sorgen. »Dafür ist der Wald viel zu schade.« Es ist also nicht nur die Waldwirtschaft, die nachhaltiger werden muss.
→ Birgit Schumacher
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 93 — Winter 2021