Die Idee kam bei einem Feierabendbier. Martin Miersch, Leiter des Sojazentrums bei Taifun Tofu, saß mit Dr. Volker Hahn zusammen, der an der Landessaatzuchtanstalt der Uni Hohenheim die Sojazüchtung leitet. Die beiden waren sich einig: Um neue Sojakreuzungen optimal auf Wachstum und Ertrag zu testen, bräuchten sie viel mehr Standorte als ihnen zur Verfügung standen. Auf einmal fiel der Groschen: Warum nicht all die Hobbygärtner und ‑gärtnerinnen um Hilfe bitten, die bei Taifun nach Saatgut fragen, um der Sojapflanze im eigenen Beet beim Wachsen zuzuschauen?
1.000 Gärten für Sojabohnen
Das war der Anfang des Soja-Experiments »1000 Gärten«. Dieses Jahr geht es bereits in die dritte Runde. Wie bereits 2016 und 2018 machen auch diesmal wieder über 1.000 Menschen mit: In Schul‑, Gemeinschafts‑, Klein- oder Hausgärten säen sie Soja aus, gießen, hegen und pflegen die Pflänzchen, dokumentieren Keimung, Blüte und Hülsenbildung. Am Ende schicken sie die geernteten Mengen ein. Neben dem Proteingehalt, der für einen guten Tofu möglichst hoch sein sollte, interessiert die Sojaexpert:innen bei Taifun und an der Hohenheimer Uni natürlich auch, welchen Ertrag verschiedene Sorten an unterschiedlichsten Standorten von Nord- bis Süddeutschland erbringen.
Was bringen Blühpflanzen?
2022 interessiert sie noch ein zusätzliches Thema, nämlich: Welche Blühpflanzen können am besten zwischen den Sojareihen wachsen, ohne ihnen allzu viele Nährstoffe wegzunehmen? »Soja braucht viel Platz, die Reihen stehen etwa 50 Zentimeter auseinander. Allerdings bedeckt die Pflanze den Ackerboden erst Anfang Juli. Mit passenden Blühpflanzen könnte man der Bodenerosion vorbeugen und gleichzeitig etwas für die Insekten und die Biodiversität tun«, sagt Kristina Bachteler, Leiterin der Sortenentwicklung bei Taifun. Also werden in den »1000 Gärten« diesmal zwischen den Sojareihen weitere Pflanzen wie Ringelblumen, Leindotter, Taubnesseln, Flachs, Frauenspiegel und wilder Senf ausgesät. Ob und wie die insektenfreundlichen Pflanzen auch die Sojaernte beeinflussen – das wird sich dann im Herbst nach der Ernte zeigen.
(Bio-)Züchtung voranbringen
Was das Experiment und das Engagement der vielen Sojabegeisterten bislang gebracht hat? »Das Ziel war und ist, die Züchtung guter Sorten voranzubringen«, so Bachteler. Sowohl die Testphase als auch die Zulassung selbst sind Prozesse, die ihre Zeit brauchen. Immerhin: Zwei neue Sorten aus dem Programm sind inzwischen zugelassen, eine von ihnen wird bereits für die Tofu-Produktion genutzt. Eine weitere Sojakreuzung ist gerade im Zulassungsverfahren. »Unsere vielen Freiwilligen beschleunigen die Ergebnisfindung sehr«, meint Bachteler dazu.
Freiwillige forschen
Nicht nur Taifun und die Uni Hohenheim, sondern auch viele andere Forschungsprojekte setzen auf die Mithilfe engagierter Laien. »Citizen Science«, zu deutsch »Bürgerwissenschaft« nennt sich diese Form der Forschung, bei der Freiwillige einen Teil der Arbeit übernehmen und damit so manches breit angelegte Forschungsvorhaben erst möglich machen. Denn mit einem großen Netzwerk an Helfer:innen lassen sich Daten von unterschiedlichsten Standorten gewinnen und Aufgaben erledigen, die normalerweise viel zu teuer oder zu zeitaufwändig wären.
Wider die Abgehobenheit
Dieser Aspekt spielte aber in den Anfängen, als sich Citizen Science in den USA und Großbritannien in den 1990ern parallel entwickelte, noch nicht die entscheidende Rolle. Wichtiger war den Initiierenden, Wissenschaft und Wissenschaftspolitik für die Gesellschaft zu öffnen und dadurch zu gegenseitigem Verständnis beizutragen. Denn im besten Fall erzielt Citizen Science nicht nur Forschungsergebnisse: Nicht-Wissenschaftler:innen können sich für Themen engagieren, die ihnen wichtig sind und einen Einblick bekommen, wie begründete Antworten und Lösungen entstehen. Wissenschaftler:innen wiederum haben eine Rückkopplung an die Gesellschaft, der ihre Forschung letztlich dienen soll.
Im besten Fall erzielt Citizen Science nicht nur Forschungsergebnisse: Nicht-Wissenschaftler:innen können sich für Themen engagieren, die ihnen wichtig sind und einen Einblick bekommen, wie begründete Antworten und Lösungen entstehen.
Mücken einfrieren, Vögel zählen
Was im Rahmen eines Citizen Science-Projekts zu tun ist, das ist je nach Vorhaben sehr unterschiedlich. Manchmal gilt es, ein paar Stechmücken zu fangen, einzufrieren und dann zu versenden. So ist der »Mückenatlas« entstanden, ein Projekt des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung und des Friedrich-Loeffler-Instituts. In den vergangenen zehn Jahren sammelten über 31.000 Teilnehmende mehr als 177.000 der blutsaugenden Insekten. Die Wissenschaftler:innen bestimmen die Arten und kartieren die Fundorte. So können sie die Einwanderung neuer Arten ebenso dokumentieren wie ihre Verbreitungsgebiete. Ähnlich unaufwändig und nützlich ist das Zählen von Vögeln, wie es bei der regelmäßig vom Nabu veranstalteten »Stunde der Gartenvögel« gefragt ist. Beide Projekte zeigen aber gleichzeitig auch eine mögliche Schwäche mancher Citizen Science-Projekte, wenn nämlich die erhobenen Daten allein davon abhängen, wieviele Menschen sich wo beteiligen. Sind es zum Beispiel in manchen Bundesländern nur wenige, werden dort entsprechend weniger Daten erhoben – was nicht unbedingt den wahren Verhältnissen entsprechen muss. Andererseits ist oft nur auf diese Weise eine bundesweite Erhebung überhaupt möglich, die sonst am Personal oder am fehlenden Geld scheitern würde.
Pestizidverbreitung nachgewiesen
Auf zivilgesellschaftliches Engagement bei der Datenermittlung setzte auch die Studie »Pestizid-Belastung der Luft«, die im Auftrag des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft durchgeführt und 2020 veröffentlicht wurde. Hier wurde von vorneherein konzeptionell berücksichtigt, dass flächendeckend gearbeitet werden musste, um aussagekräftige Resultate zu erhalten. Für das bundesweite Monitoring gab es 116 quer über die Republik verteilte Messpunkte – in Städten und auf dem Land, auf konventionellen und auf Bio-Feldern, an der Küste, im Gebirge, sogar in Naturschutzgebieten. Die Auswahl der Orte traf das durchführende Forschungsteam. Erst anschließend wurden Freiwillige gesucht und geschult. Sie kontrollierten dann vom Frühjahr bis in den Herbst 2019 den Zustand der aufgestellten Passivsammler, wechselten Filtermatten und schickten sie ein. Auch Imkereien, die aus ihren Stöcken Bienenbrot für die Untersuchung zur Verfügung stellten, waren dabei. Die Ergebnisse belegten den schon lange gehegten Verdacht, dass Pestizide nicht nur dort zu finden sind, wo sie eigentlich ausgebracht werden, sondern sich über die Luft in erschreckendem Ausmaß verteilen und sogar kilometerweit abdriften. Selbst auf der Spitze des Brockens im Nationalpark Harz waren zwölf verschiedene Pestizide nachweisbar. Das Pestizid Glyphosat fand sich in sämtlichen Passivsammlern quer über die Republik sowie in allen Filtermatten von Gebäudelüftungsanlagen. »Diese Studie mit ihren wichtigen Resultaten konnte nur mit Hilfe der vielen freiwillig Engagierten durchgeführt werden«, lobt Dr. Niels Kohlschütter vom Vorstand des Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft deren Einsatz.
Sinnstiftende Mitarbeit
Ein weiteres Citizen Science-Projekt will fundierte Ergebnisse für einen Bereich liefern, der von vielen als innovatives und hoffnungsvolles landwirtschaftliches Modell gesehen wird. In so genannten Agroforstsystemen werden Baumreihen und/oder Sträucher gezielt in den Ackerbau oder das Weidemanagement integriert. Die Initiative für landwirtschaftlichen Wissensaustausch, 2019 am Institut für Landschaftsökologie der Uni Münster gegründet, will wissen, ob die Agroforstwirtschaft den hohen Erwartungen in Bezug auf Klima- und Bodenschutz sowie den Erhalt der Biodiversität gerecht werden kann.
Sechs Betriebe haben sich bereit erklärt, ihre Flächen für die komplexen Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Bodenlebewesen, Insekten und Vögel werden ebenso gezählt und bestimmt wie Beikräuter. Regelmäßig werden Humusgehalte untersucht, Bodenfeuchtigkeit und Verdunstung gemessen, Baumwachstum und Feldfruchtertrag dokumentiert. Auch hier wirken vor allem freiwillige Helfer:innen mit. »Die Bereitschaft, sich vor Ort zu engagieren, ist sehr groß«, berichtet Julia Binder von der Projektkoordination. Die meisten Freiwilligen wohnen in der Nähe und freuen sich über die Möglichkeit, den Hof und alles, was die Landwirt:innen so umtreibt, besser kennenzulernen. »Die Mitarbeit wird als sehr sinnstiftend empfunden«, berichtet Binder.
Digitales Küchentagebuch
Noch gesucht werden Teilnehmer:innen für ein Projekt, das sich mit der Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten beschäftigt. Denn immer noch landet viel zu viel im Müll, was eigentlich für den Teller gedacht war. Wissenschaftler:innen der TU Berlin, des Ecologic Instituts und von Slow Food Deutschland beschäftigen sich deshalb mit der Frage, welche Maßnahmen dagegen wirken könnten. »Bislang haben sich etwa 600 Leute angemeldet, aber für aussagekräftige Ergebnisse brauchen wir mehr«, sagt Prof. Dr. Nina Langen, die an der TU Berlin das Fachgebiet Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft leitet. Noch bis zum 21. September werden Mitmacher:innen gesucht (mehr unter eveeno.com/citizenscience2022). In einem digitalen Küchentagebuch sollen sie eine Woche lang die anfallenden Lebensmittelabfälle dokumentieren. Anschließend sucht sich jede:r in einer zweiten Phase eine von mehreren angebotenen Aktionen aus, die dazu beitragen sollen, die eigene Verschwendung zu reduzieren. Ob das geklappt hat, zeigt sich dann, wenn anschließend für eine weitere Woche wieder das Küchentagebuch ausgefüllt wird. Im Frühjahr 2023 sollen die offiziellen Ergebnisse des Projekts vorgestellt werden.
Weites Feld mit vielen Themen
Natürlich ließe sich auch hier argumentieren, dass bei einer solchen Studie vor allem Menschen mitmachen, die für das Thema ohnehin sensibilisiert sind und entsprechend wenig wegwerfen. Nina Langen ist das bewusst: »Durch viele unterschiedliche Aktionen wollen wir auch ganz unterschiedliche Menschen für das Citizen Science-Projekt erreichen und damit eine breite Basis an Daten erhalten.« Die Mitarbeit engagierter Freiwilliger kann wissenschaftliches Arbeiten nicht ersetzen – aber wirkungsvoll ergänzen – Win-win für Gesellschaft und Wissenschaft.
Übrigens: Unter buergerschaffenwissen.de sind weit über hundert aktuelle Citizen Science-Projekte aufgelistet. Ob Ernährung oder Gesundheit, Klima oder Landnutzung, Mikro-organismen oder Technik – in den 16 Themenfeldern gibt es jede Menge spannende Forschungsfragen zum Mitmachen zu entdecken.
→ Birgit Schumacher
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 96 — Herbst 2022