Wie kommt »bitter« überhaupt zustande? Bitterstoffe sind eine Reihe unterschiedlicher chemischer Verbindungen. Um sie wahrnehmen zu können, haben wir auf der Zunge einen Rezeptor namens »hTAS2R« (h steht für human, TAS für »taste«), der auf den Geschmacksrezeptorzellen unserer Geschmacksknospen sitzt. Die insgesamt 25 Geschmacksrezeptoren, die es für den bitteren Geschmack gibt, sitzen übrigens ganz hinten auf der Zunge.
Bitter als Warnsignal
Wir können bitter also wunderbar schmecken, obwohl die meisten Menschen keine Fans des bitteren Geschmacks sind. Das ist sinnvoll, denn: Einer der Gründe für die allgemeine Unbeliebtheit könnte eine evolutionäre Schutzfunktion sein. Pflanzen produzieren Bitterstoffe, um Fressfeinde abzuwehren. Bitter geht dabei oft einher mit giftig. Wenn etwas bitter schmeckt, kann das also durchaus ein Warnsignal sein: Vorsicht, nicht essen! So starb vor einigen Jahren ein Rentner, der selbst gezogene Zucchini gegessen hatte, obwohl sie furchtbar bitter schmeckte. Dipl.-Ing. Wolfgang Palme, Abteilungsleiter für Gemüsebau an der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau in Schönbrunn erklärt: »Die Bitterstoffe sind im Pflanzenreich chemisch gesehen eine unglaublich vielfältige Gruppe von Inhaltsstoffen. Die Cucurbitacine beispielsweise sind für bittere Fruchtenden von Gurken und Zucchini verantwortlich. Sie sind Giftstoffe.«
Klarerweise sind nicht alle bitteren Pflanzen giftig, im Gegenteil, viele sind sogar überaus gesundheitsfördernd. Beobachtungen zeigen, dass Tiere instinktiv bittere Kräuter fressen, wenn sie erkranken. Wir Menschen hingegen gehen dem Geschmack meist aus dem Weg. Ein Grund dafür könnte auch sein, dass wir immer mehr verarbeitete Lebensmittel konsumieren, die in erster Linie salzig oder süß sind. Und weil der Mensch beim Essen ein Gewohnheitstier ist, befinden unsere Geschmacksknospen hauptsächlich Speisen mit diesen Attributen für gut, bittere Noten haben fast keine Chance.
Die Sache mit Kaffee, Bier und Oliven
Doch es gibt Ausnahmen, zum Beispiel Kaffee, ein ausgesprochenes Lieblingsgetränk der Deutschen. Der schmeckt uns offensichtlich – allerdings meist erst, wenn wir älter sind. Das liegt daran, dass die Zahl der Geschmacksknospen zurückgeht – im Alter besitzen wir nurmehr etwa ein Fünftel der ursprünglichen Anzahl. Das bedeutet: Bitter schmeckt im Laufe des Lebens weniger kräftig und dann finden wir daran häufig durchaus Gefallen.
Während wir im Jugendalter noch die Nase über die Kaffee trinkenden Erwachsenen rümpfen und nicht nachvollziehen können, was man an dem braunen Gebräu finden kann, wollen wir später oft nicht mehr darauf verzichten. Grundlegend gilt auch: Je öfter man Bitteres zu sich nimmt, desto eher gewöhnt man sich daran – man spricht hier vom sogenannten Mere-Exposure-Effekt. Die erste Tasse Kaffee schmeckt noch nach bitterer Plörre, die siebte dann bereits nach Lebenselixier. Das Gleiche gilt übrigens für andere »erwachsene« Lebensmittel wie etwa Oliven, Bier, dunkle Schokolade oder Kräuterschnaps.
Alles für den guten Geschmack
Apropos: Unsere Großeltern griffen vor oder nach einer üppigen Mahlzeit gerne zum »Magenbitter«, um der Verdauung damit auf die Sprünge zu helfen. Dabei hätten sie die Bitterstoffe aus der Flasche gar nicht so nötig gebraucht. Denn viele Lebensmittel waren früher bitter(er). Gurken, Artischocken, Zucchini oder Rosenkohl: Ihnen allen wurde das Bittere über die Jahre weggezüchtet – im Namen des guten Geschmacks. »Aus Wildpflanzen Nutzpflanzen zu züchten, war eine Kulturleistung der Menschheit über Jahrhunderte, lange bevor es Samenfirmen und Saatgutkonzerne gab. Die für die menschliche Ernährung störenden Inhaltsstoffe wegzuzüchten, erforderte aufwändige Selektionsarbeit. Bei Gurken und Zucchini beispielsweise gelang die Entwicklung von völlig bitterfreien Sorten erst im 20. Jahrhundert«, sagt Palme. Ein Blick in alte Kochbücher, in denen die Rezepte anweisen, Auberginen zu »entbittern« oder die Spitzen von Gurken wegzuschneiden, bestätigen diese Entwicklung. Wildpflanzen und ‑kräuter wie Löwenzahn, Brennnesseln oder Schafgarbe haben ihre Bitterkeit über die Zeit hinweg ungestört behalten und können uns auf Wunsch auch heute noch mit natürlichen Bitterstoffen versorgen.
Bitter boomt (wieder)
Denn: Obwohl sie zuerst weggezüchtet und überhaupt aus unserer Ernährung weitestgehend eliminiert wurden, erlebt der bittere Geschmack gerade so etwas wie eine Renaissance: Denn bitter kann eben auch gut für uns sein. Was gut für die Gesundheit ist, will der Mensch wiederum gerne möglichst einfach zu sich nehmen. Im Reformhaus haben bittere Tinkturen und Pflanzensäfte seit jeher ihren festen Platz. Jetzt werden Bittertropfen und ‑Tinkturen, Pulver und Säfte auch von jungen Start-ups auf den Markt gebracht. Auf Instagram und Co. werben sie mit attraktiven minimalistischen Braungläsern und schönen Naturbildern – Bitter wird zum Lifestyle-Trend. So kommt der eigentlich unbeliebte Geschmack bei neuen Zielgruppen an. Jedoch geht es bei den bitteren Stoffen um so viel mehr als um die Ergänzung einer hippen Morgenroutine.
Besser verdauen
Nicht nur Hildegard von Bingen setzte in ihren Rezepten auf bittere Pflanzen. Sie haben tatsächlich eine wichtige gesundheitliche Funktion. »Bitter stimmt den kompletten Verdauungsapparat in den Arbeitsmodus ein«, erklärt Diätologin Sabine Nußbaumer. »Die beste Wirkung hat man daher, wenn man das Essen mit etwas Bitterem beginnt.« So wird die Produktion von Speichel, Magensaft, Gallenflüssigkeit und Bauchspeicheldrüsensekret angeregt. »Spätestens zur Hauptspeise unterstützt bitter in Form von Salat oder Gemüse als Beilage noch immer kräftig bei der Verdauung und Völlegefühl, Blähungen und Krämpfe werden seltener«, fügt sie hinzu. Nicht nur das: Durch den angekurbelten Gallenfluss wird in Folge auch die Leber in ihrer Entgiftungsfunktion tatkräftig unterstützt. Das Allround-Talent Bitter soll den Körper sogar gegen Bakterien und Viren unterstützen, einer Übersäuerung des Körpers entgegenwirken und den Blutzuckerspiegel positiv beeinflussen können. Besonders attraktiv ist für viele neue Bitterfans, dass Bitterstoffe angeblich die Lust auf Süßes vermindern und Naschattacken vorbeugen können.
Bittersüß genießen
»Um mehr Bitterstoffe in die Ernährung zu integrieren, können verschiedene Geschmacksrichtungen kombiniert werden«, rät Nußbaumer. So könne man als »Bitter-Anfänger:in« die Geschmacksnerven austricksen und dadurch mehr Bitterstoffe in die Ernährung einbinden. »Eine beliebte Möglichkeit ist die Kombination von bitter und süß, um Ersteres abzurunden. Beispielsweise kann man bittere Gemüsesorten wie Rosenkohl oder Chicorée in der Pfanne braten und kurz vor dem Garprozess etwas Zucker darüber streuen«, rät die Diätologin. Wer es trotzdem nicht schafft, grüne Paprika, Grapefruit oder Radicchio regelmäßig in den Speiseplan zu integrieren, holt sich die guten Eigenschaften der Bitterstoffe eben doch aus Nahrungsergänzungsmitteln, die es im Bio-Laden sogar in Bio-Qualität gibt. Zumindest ein oder zwei kulinarische Versuche lohnen sich aber bestimmt, denn nur so können wir das volle menschliche Geschmacksspektrum erleben. Denn zu dem gehört bitter genauso dazu, wie süß, salzig, sauer und umami.
Text: Nadine Pinezits
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