1972 veröffentlicht der Club of Rome seinen Bericht »Die Grenzen des Wachstums«, eine eindringliche Warnung davor, mit der Ausbeutung der Rohstoffe, der Zerstörung von Lebensräumen und unbegrenztem Wachstum einfach so weiterzumachen. Die Fakten rütteln auf. Viele junge Menschen, die sich in der Studentenbewegung für gesellschaftliche Veränderung engagieren, haben zu diesem Zeitpunkt die endlosen Debatten in verrauchten WG-Küchen satt. Sie wollten nicht nur theoretisieren, sie wollen selber etwas tun: ihr Leben im Einklang mit ihren Idealen führen, konkrete Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell entwickeln.
Etliche von ihnen zieht es aufs Land, zurück zu einem einfacheren Leben. Sie wollen Modelle entwickeln, wie man mit weniger auskommen, sich selbst versorgen kann. Dazu gehört für sie auch eine einfache, naturbelassene Ernährung – eine ziemlich schräge Idee in einer Zeit, die immer noch vom Wirtschaftswunder geprägt ist, in der Fertiggerichte neu und angesagt sind, exotische Lebensmittel gerade für die breite Masse erschwinglich werden, in der die »grüne Revolution« reiche Ernten und ein Ende des Welthungers dank Pflanzenschutzmitteln verspricht.
Selber machen, was es nicht zu kaufen gibt
Sie propagieren das Konzept der Vollwerternährung: Frischkornmüsli aus rohem Getreide am Morgen, jede Menge Rohkost. Fleisch und Zucker sind unter strengen »Ökos« verpönt. Regional, saisonal, unverarbeitet sollen die Lebensmittel sein. Den ersten Ökos ging es nicht um kulinarische Höhepunkte, sondern um nichts weniger als die Rettung des Planeten. Das größte Problem der frisch gebackenen Naturköstler:innen war die Warenbeschaffung: Frische, unbehandelte Lebensmittel und natürliche Produkte waren fast nicht erhältlich.
Das bedeutete endlose Fahrten mit dem VW-Bulli über Land, um bei den dünn gesäten Bio-Höfen einzukaufen. Auch regelmäßige Touren ins europäische Ausland standen auf dem Plan. Dort wurden zum Beispiel makrobiotische Spezialitäten eingekauft, inklusive Stress an belgischen, niederländischen und deutschen Grenzen (denn die gab es noch überall in Europa): Wie lauten doch gleich die Zolltarifnummern für Tahin, Mu-Tee und Nori-Algen? Wenn etwas nicht zu haben ist, fängt irgendjemand an, es herzustellen: Müsli wird gemischt, Fruchtriegel werden gepresst. Es entstehen Vollkornbäckereien, Tofureien und Naturkosmetik-Manufakturen. Der Begriff »Bio« ist damals nicht geschützt, alle können ihn beliebig benutzen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass man sich kennt und einander vertraut.
Peace Food und Körnerkongresse
Ungefähr fünf Bio-Läden gibt es 1973 in Deutschland. Sie tragen programmatische Namen wie »Peace Food« oder »Was die Bäume sagen«. Wirtschaftlich erfolgreich sind sie nicht unbedingt: Auf 1.000 DM schätzt einer der ganz frühen Ladner den Monatsumsatz seines Ladens in der Anfangszeit. Ist auch nicht so wichtig: Die Läden sind keine reinen Einkaufsstätten und wollen es auch nicht sein. Sie fungieren als Kommunikationszentrum für die Anti-AKW- und die Friedensbewegung ebenso wie für Yoga und Esoterik, kurz für alle, die anders leben wollen. Zentrales Element: Das Schwarze Brett. Die Zahl der Läden wächst ständig: 1983 sind es bereits rund tausend. Das lässt zwar bereits ein gewisses Potenzial erahnen, ist aber nicht wirklich viel. Bemerkenswert gerade im Rückblick: Dafür, dass im Grunde nur eine Handvoll Menschen wirklich etwas mit Bio am Hut hatte, war das öffentliche Empörungspotenzial enorm. »Körnerfresser« nannte der Volksmund Bio-Fans, die – so gängige Vorstellung – alle lila Latzhosen und Jesuslatschen trugen und sich von überteuerten (jawohl, der Preis war von Anfang an Thema) schrumpligen Äpfeln ernährten.
»Ökos« oder »Müslis« waren ebenfalls gängige und durchaus nicht freundlich gemeinte Bezeichnungen (heute schafft es das Thema vegan, die Menschen ebenso zu polarisieren). Die junge Branche nahm es mit Ironie: 1983 fand der »Frankfurter Körnerkongress« statt, parallel zur Messe »Müsli«. Die wiederum war Vorläuferin der heutigen BioFach, der globalen Leitmesse für Bio, die heute Tausende von Ausstellenden und Zehntausende Fachbesucherinnen und ‑besucher aus aller Welt anzieht. Das Misstrauen zwischen »Normal«-Bürgerinnen und Bürgern und »Ökos« beruhte übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit: »So, du willst also hier Brot kaufen? Bist du denn dafür qualifiziert?« So schilderte Journalist Wiglaf Droste einst in einer Glosse sein Einkaufserlebnis im Bio-Laden und beschwerte sich: »Einkaufen im Bio-Laden ist wie Konfirmationsunterricht. Man fühlt sich ständig ertappt.«
Von der Bewegung zur Branche
Die junge Bio-Branche, aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus bereits gut vernetzt, differenziert sich immer stärker in Erzeugung und Herstellung, Großhandel und Handel. Je größer das Angebot an Produkten, desto wichtiger wird die Frage nach der Echtheit, denn immer häufiger wird mit den – wie gesagt damals völlig ungeschützten – Begriffen wie »biologischer Anbau« oder »aus ökologischer Erzeugung« konventionelles Schindluder getrieben. Bereits 1983 gründet sich der Vorläufer des heutigen Bundesverbands Naturkost Naturwaren BNN e. V. Zuvor hatte sich 1973 der ökologische Anbauverband Bioland gegründet, 1982 folgt Naturland. (Der älteste Anbauverband, Demeter, wurde bereits 1927 gegründet und geht auf die Anthroposophie Rudolf Steiners zurück).
Lebensmittelskandale als Wachstumsfaktor
1983 ziehen Die Grünen das erste Mal in den Bundestag ein. 1986 explodiert in Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion ein Atomreaktor. Radioaktive Strahlung zieht über Europa und verseucht Lebensmittel. Bis heute ist Radioaktivität in Pilzen und Wild in einigen Regionen Süddeutschlands nachweisbar. Das Vertrauen der Menschen in die Atomkrafttechnologie wird durch den GAU nachhaltig erschüttert. Gleichzeitig erleben die Bio-Läden den ersten Ansturm auf ihre Produkte: Mehr Menschen machen sich Gedanken darüber, ob und womit ihre Lebensmittel möglicherweise belastet sind.
Zumal die konventionelle Lebensmittelindustrie immer häufiger durch Skandale von sich reden macht: »Gammelfleisch«, Würmer im Fisch, belastete Eier … Von der Bio-Branche, angetreten mit dem Ideal, es anders zu machen, erhoffen sich immer mehr Menschen bessere Lebensmittel. So wachsen die Umsätze der Bio-Branche in den 1990er Jahren jedes Jahr konstant um circa zehn Prozent. Gehandelt werden die Produkte fast ausschließlich in Bio-Läden und Reformhäusern.
Bio wird Gesetz – und ein Wirtschaftsfaktor
Auch politisch bewegt sich etwas. 1991 tritt die erste EU-Bioverordnung in Kraft: Wo Bio oder Öko draufsteht, muss nun auch Bio drin sein – regelmäßig kontrolliert. Übrigens: Die EU-Bio-Gesetzgebung beruht nicht unerheblich auf der Vorarbeit, die die Bio-Branchenverbände geleistet hatten. Die Zeichen stehen auf grün: Die Sortimente werden umfangreicher, längst gibt es nicht mehr nur »Vollwertiges«, sondern auch Kekse, Brot und Nudeln aus Weißmehl, Schokolade, Wurst und Co. 1994 eröffnet in Münster der erste Bio-Supermarkt. Die Bio-Branche will raus aus der Nische, Bio soll für möglichst viele Menschen attraktiv werden.
Um das zu erreichen, nehmen die Bio-Unternehmen auch Kompromisse in Kauf – immer mehr verarbeitete Lebensmittel und Fertigprodukte finden ihren Weg in die Läden. Die Verpackungen werden aufwändiger, das Marketing professioneller. Trotzdem: Als 1996 die erste Ausgabe des Magazins Bioboom erscheint, sagen viele: Ihr spinnt doch, von wegen Boom. Andere finden, dass ein Boom und Bio nicht zusammengehen – Widersprüche, die bis heute in Bio immanent und präsent sind.
Landwirtschaftsministerium wird grün
Ende 2000 wurde in Deutschland der erste BSE-Fall offiziell bekannt gemacht. Die Tierseuche, die das Hirn der betroffenen Tiere wie einen Schwamm durchlöchert, hatte sich bereits seit Mitte der 80er Jahre vor allem in Großbritannien ausgebreitet. Die Bilder von zuckenden Tieren, von Kadaverbergen, die verbrannt werden, schockieren Verbraucher:innen. Die deutschen Behörden hatten das Problem lange heruntergespielt. Als Ursache von BSE stellt sich heraus, dass Schafe, die aufgrund einer ähnlichen Erkrankung getötet werden mussten, nicht entsorgt, sondern zu Tiermehl verarbeitet und verfüttert worden waren – ein Lebensmittelskandal. Der »Rinderwahnsinn« wie die Seuche im Volksmund genannt wird, ist durch Rindfleischkonsum auch auf Menschen übertragbar, in England sterben laut Presseberichten über 100 Menschen. In Europa bricht Panik aus. In Deutschland verringert sich der Fleischkonsum (allerdings nur kurzfristig) um die Hälfte.
Mit BSE rücken die Realitäten der industriellen Tierhaltung und Lebensmittelerzeugung schonungslos ins Licht der Öffentlichkeit. Und auch wenn der Fleischkonsum relativ schnell wieder auf dem alten Niveau ist: Das Misstrauen bleibt und beflügelt wiederum das Wachstum der Bio-Branche. In Folge des BSE-Skandals wird Renate Künast im Januar 2001 erste grüne Landwirtschaftsministerin in Deutschland und will eine »Agrarwende« auf den Weg bringen, die nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft bedeutet. Industrielle Tierhaltung und Landwirtschaft sollen reguliert werden, der Anteil der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland innerhalb von nur zehn Jahren auf 20 Prozent gesteigert werden (hat nicht geklappt, heute liegt er bei knapp 11 Prozent). 1998 war die erste Ernte gentechnisch veränderter Sojabohnen nach Deutschland gekommen. Nicht nur für ökologisch wirtschaftende Betriebe und Umweltverbände ist Gen-Food eine Horrorvorstellung: Auch die Mehrheit der Bundesbürger:innen misstraut gentechnisch veränderten Pflanzen bis heute.
In der Mitte der Gesellschaft
2010 liegt der Umsatz mit Bio-Produkten bei 5,8 Milliarden Euro. 2021 waren es 15,87 Milliarden. Die Bio-Branche ist, wie es so schön heißt, »in der Mitte der Gesellschaft angekommen«. Auch der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel (LEH) begann, immer mehr auf Bio zu setzen – mittlerweile werden 62 Prozent aller Bio-Umsätze dort getätigt. Waren es zunächst Eigenmarken, so sind heute auch zahlreiche »klassische« Bio-Marken sowie die Siegel der Anbauverbände Bioland, Demeter und Naturland im LEH zu finden. Die jungen Wilden von einst nähern sich dem Ruhestandsalter oder sind bereits in Rente. Für ihre Nachfolge finden sie unterschiedliche Wege: Viele der mittelständischen Unternehmen sind Familienbetriebe, in denen bereits die zweite Generation mit im Boot ist. Andere haben durch intelligente Modelle dafür gesorgt, dass ihr Unternehmen weder vererbt noch verkauft werden kann. Und einige gehören heute den Konzernen, zu denen sie einst Alternativen suchten.
Sich treu bleiben im Wandel
Dass mehr, am liebsten die gesamte, landwirtschaftliche Fläche, ökologisch bewirtschaftet wird. Dass Bio-Lebensmittel kein belächeltes Nischensortiment sind, sondern der Normalfall und überall zu haben: Genau dafür sind die Bio-Pionier:innen von damals angetreten. Mit diesem Erfolg sehen sie sich neuen Fragen gegenüber: Ist es möglich, seinen Idealen treu zu bleiben und dabei wirtschaftlich zu arbeiten? Welche Rolle werden Bio-Läden und Bio-Supermärkte zukünftig spielen? Vielleicht wird es unterschiedliche Antworten auf diese Fragen geben. Doch eins steht fest: Einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, ein Konsum, der sich an den Möglichkeiten unseres Planeten und gleichen Rechten für alle Menschen auf ihm orientiert, eine Landwirtschaft, die Böden, Pflanzen und Tiere respektiert, einen Lebensstil, der »genug« nicht als Verzicht definiert: Das brauchen wir heute immer noch mindestens genauso dringend wie damals.
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→ Jeanine Tovar