Der Wunsch, Fleisch durch pflanzliche Alternativen zu ersetzen hat Tradition: Tofu, das proteinreiche Lebensmittel aus der Sojabohne, wird bereits seit über 2.000 Jahren verspeist. Und bereits im 6. Jahrhundert entdeckten buddhistische Mönche in China, die aus religiösen Gründen kein Fleisch essen, wie man aus Weizenmehl das Weizeneiweiß herausbekommt und in eine schnittfeste, faserige und fleischähnliche Masse verwandelt. Aus dem stellten sie dann Alternativen zu »Schweinefleisch« und »gebratener Dickdarm« her. Georges Oshawa, Begründer der Makrobiotik, brachte das Weizeneiweiß, das er Seitan nannte, in den 1960er Jahren in die USA, dort lernten es europäische Fans von Makrobiotik und alternativer Ernährung kennen. Das wiederum erklärt, dass Tofu und Seitan von Anfang an zum Sortiment der ersten Bio-Läden, die in den 1970er Jahren entstanden, gehörte, ebenso wie sehr bald auch die ersten »Würstchen« und Bratlinge.
600 Prozent Umsatzzuwachs in zwei Jahren
Was lange eine Nische war, ist heute Mega-Trend: Der Umsatz mit vegetarischen und veganen Alternativen hat sich in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren fast verdreifacht. Den Großteil machen nach wie vor Pflanzendrinks aus — doch das »Pflanzenfleisch« holt auf. Von 2018 bis 2020 stieg der Umsatz in diesem Segment laut der Nichtregierungsorganisation »ProVeg« um 600 Prozent. Neben Soja und Weizen werden heute immer häufiger proteinreiche Lebensmittel wie Erbsen, Lupinen oder Pilze als Basis genutzt. Ein Ende des Booms ist nicht absehbar: Manche Prognosen gehen davon aus, dass »Vleisch« bis 2030 dem Markt für Fleisch und Wurst bereits 25 Prozent des Umsatzes abnehmen könnte. Entsprechend hat die Lebensmittelindustrie den Trend, der ursprünglich im Bio-Laden zuhause war, für sich entdeckt: Heute findet man »Vleisch« und »Visch« in jedem Supermarkt und fast allen Discountern. Die Rügenwalder Mühle, ein Lebensmittelriese, bei dem die Wurst im Logo prangt, verkaufte 2021 erstmals mehr vegetarische und vegane Produkte als herkömmliche Fleisch- und Wurstwaren.
Veganes ist nicht preiswerter
Dass sich das Geschäft lohnt, dürfte auch daran liegen, dass die pflanzlichen Alternativen nicht unbedingt weniger kosten als das Original — obwohl die Rohstoffe in der Regel günstiger sind. Zum Beispiel fand die Autorin die veganen Mühlenfrikadellen aus Sojaprotein im Supermarkt für 18,12 Euro pro Kilogramm — die Frikadellen aus Fleisch waren für nur 16,91 Euro zu haben. Wie der World Wild Life Fund For Nature (WWF) berichtet, ist das keine Ausnahme. Die Umweltorganisation vergleicht regelmäßig zu Beginn der Grillsaison Preise von Fleisch und vegetarisch-veganem Grillgut und stellte fest, dass 2023 ein Kilogramm Grillfleisch im Schnitt fast zwei Euro weniger kostete als rein pflanzliche Fleischalternativen.
Manche Prognosen gehen davon aus, dass »Vleisch« bis 2030 dem Markt für Fleisch und Wurst bereits 25 Prozent des Umsatzes abnehmen könnte. Entsprechend hat die Lebensmittelindustrie den Trend, der ursprünglich im Bio-Laden zuhause war, für sich entdeckt.
Besser für Klima und Umwelt
Für den WWF ist das ein Unding: »Der Lebensmitteleinzelhandel sollte von Rabatten und Lockangeboten für tierische Produkte absehen«, fordert er. Denn dass die pflanzlichen Alternativen besser für Umwelt und Klima sind, daran besteht kein Zweifel. Wer sich vegan ernährt, verursacht je nach Berechnung allein durch seine Essgewohnheiten bis zu 70 Prozent weniger CO2-Ausstoß als Menschen, die regelmäßig Fleisch essen. Und das gilt auch, wenn einfach nur Vleisch statt Fleisch gegessen wird. Das Umweltbundesamt (UBA) verglich 2020 die Ökobilanz von Fleisch und Fleischalternativen. Das Ergebnis war eindeutig: Produkte auf Pflanzenbasis schnitten besser ab als herkömmliche Fleisch- und Wurstwaren — und übrigens auch besser als Lebensmittel aus Insekten oder Fleisch aus der Petrischale. Um 100 Gramm Fleischprotein zu erhalten, braucht man sechs- bis siebenmal mehr Fläche als für 100 Gramm Eiweiß aus Soja — der Umweg über das Tier ist einfach nicht effektiv.
Auch in Sachen Klima können die Ersatzprodukte punkten: Laut UBA liegt der CO2-Ausstoß von Rindfleisch 27-mal über dem eines Ersatzes auf Sojabasis. Wer die Lasagne mit Sojagranulat statt Rinderhack backt, reduziert ihren CO2-Fußabdruck so um mehr als die Hälfte. Das hat das ifeu (Institut für Energie- und Umweltforschung) aus Heidelberg berechnet. Positiver Nebeneffekt: Soja, Lupine und Erbse, auf denen viele Ersatzprodukte basieren, verbessern die Qualität des Bodens. Wer sie in die Fruchtfolge integriert, braucht weniger Dünger — der dann gar nicht erst vom Feld ins Grundwasser gelangen kann. Und wo wir schon dabei sind: Noch besser wird die Umweltbilanz, wenn die Rohstoffe aus kontrolliert-biologischem Anbau stammen, in dem grundsätzlich kein Kunstdünger und keine Pestizide eingesetzt werden.
Ist das gesund?
Als »Killer« bezeichnete Ernährungsmediziner Matthias Riedl aufmerksamkeitswirksam vegane und vegetarische Ersatzprodukte Anfang des Jahres in der Sendung »stern TV«: Sie enthielten zu viele Zusatzstoffe, Salz und Fett. Für diese Aussage erntete er massive Kritik — unter anderem von Markus Keller, der das Forschungsinstitut für pflanzenbasierte Ernährung (IFPE) in Gießen leitet. So pauschal könne man das nicht sagen, findet er, man müsse schon genauer hinschauen. Genau das haben Keller und sein Team nämlich getan: Bereits 2017 untersuchten sie 80 Lebensmittel auf ihren Nährwert. Die veganen Alternativen schnitten dabei oft besser ab als die tierische Option. Sie enthielten zum Beispiel deutlich weniger gesättigte Fettsäuren, aber mehr und hochwertigere Proteine. Und eine Studie der landwirtschaftlichen Fakultät an der Uni Göttingen stellte fest, dass in pflanzenbasierten Würstchen und Burgern ähnlich viel Zink und sogar mehr Eisen als im Original steckten. Verbesserungsbedarf sieht auch Keller allerdings beim Thema Salzgehalt, der in vielen Produkten hoch war. Spitzenreiter war eine vegane Salami mit 3,4 Gramm Salz pro 100 Gramm, auch in Bio-Produkten steckte übrigens reichlich Salz. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, pro Tag nicht mehr als sechs Gramm zu essen. Doch auch dieser Befund ist relativ: Die herkömmliche Salami enthielt noch mehr Salz.
Seit den 60er-Jahren können sich in der Bundesrepublik die meisten Haushalte reichlich tierische Produkte leisten. Wer heute volljährig ist, wuchs daher höchstwahrscheinlich mit Fleisch, Milch und Käse auf: »Viele Menschen macht das Schnitzel eben nicht nur satt, es spendet auch Trost, gibt ein Gefühl von Geborgenheit, ist Heimat und Identität.«
Weniger Zusatzstoffe in Bio-Produkten
Im September 2023 nahm das Verbrauchermagazin Öko-Test vegane Fischstäbchen unter die Lupe und listet auf, was so alles drinsteckt: Emulgatoren, Stabilisatoren und natürlich Aroma. »Besser wäre es in unseren Augen, die Produkte erzeugten allein mit leckeren Zutaten einen guten Geschmack, anstatt diesen künstlich aufpimpen zu müssen«, garstelten die Autorinnen. Und genau das schaffen vegane Bio-Produkte: Denn viele der bemängelten Zutaten kommen in Bio-Lebensmitteln schlicht nicht vor. Denn hier kommen nur 56 der insgesamt über 300 Zusatzstoffe zum Einsatz, die in Deutschland zugelassen sind (und die sich übrigens auch in vielen Fleisch- und Wurstwaren finden).
Das IFPE fand im Schnitt in bio-veganen Alternativen genau einen Zusatzstoff. Viele kommen sogar ganz ohne Stabilisatoren, Farb- und Konservierungsstoffe aus. In pflanzlichen Alternativen aus konventioneller Herstellung waren es durchschnittlich 3,5 Zusatzstoffe — darunter auch umstrittene wie das Verdickungsmittel Konjak (E 425). Künstliche Aromen sind in Bio-Lebensmitteln ohnehin tabu.
»Ersatzprodukte erleichtern den Übergang«
Ob Fleisch oder Fleischalternative: Wer Lust auf Schnitzel, Aufschnitt und Wurst hat, greift besser zu Bio. Und wie beim tierischen Produkt gilt: Sie können Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung mit vielen frischen pflanzlichen Zutaten sein, wie die DGE sie empfiehlt. Damit weniger Tiere auf unseren Tellern enden, findet Pamela Kerschke-Risch solche Lebensmittel dennoch wichtig. »Ersatzprodukte erleichtern den Übergang«, sagt die Ernährungssoziologin, die an der Uni Hamburg unter anderem zu Veganismus forscht. »Ernährung ist eine Frage der Sozialisation«, erklärt sie. Und die sei für viele Deutsche, die heute im Erwachsenenalter sind, recht fleischlastig verlaufen: Seit den 60er-Jahren können sich in der Bundesrepublik die meisten Haushalte reichlich tierische Produkte leisten. Wer heute volljährig ist, wuchs daher höchstwahrscheinlich mit Fleisch, Milch und Käse auf: »Viele Menschen macht das Schnitzel eben nicht nur satt, es spendet auch Trost, gibt ein Gefühl von Geborgenheit, ist Heimat und Identität«, erklärt Kerschke-Risch. Sie würden daher stets die bekannten Gerichte essen. Wolle man sie dazu bewegen, weniger tierische Lebensmitteln zu verspeisen, sei es hilfreich, wenn sie ihr Essverhalten nicht großartig ändern müssten. Mittags Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, abends Brot mit Aufschnitt: Vegane Ersatzprodukte ermöglichen, dass sich (fast) nichts ändert.
Vegan Cuisine — Blick über den Tellerrand
Der klassische »Dreiteiler« aus Fleisch, Stärkebeilage und Gemüse ist in anderen Regionen weit weniger verbreitet. In anderen Ländern hat es die vegane Ernährung daher bisweilen leichter. Arne Ewerbeck, der in Hamburg die vegane Kochschule »Kurkuma« leitet, empfiehlt Menschen, die ihren veganen Horizont erweitern wollen, deshalb eher nicht den Griff zum fleischlosen Gulasch — sondern den Blick über den kulinarischen Tellerrand: »In vielen asiatischen Ländern aber zum Beispiel kommt man gar nicht in die Verlegenheit, Fleisch ersetzen zu müssen.« An seiner Kochschule setzt er auf traditionelle pflanzliche Proteinlieferanten wie Tofu, Tempeh und Hülsenfrüchte. Diese Zutaten sind für ihn aber kein Ersatz, sondern eine vollwertige Zutat — und eine gesunde noch dazu: »Tofu, Tempeh und Co. sind nicht nur tolle Proteinquellen. Sie stecken auch voller wertvoller Nährstoffe — und lassen sich sehr vielfältig zubereiten.«
Weniger Tierhaltung, weniger Fleisch und tierische Produkte auf den Tellern: Das tut Gesundheit, Umwelt und Klima gut — erst recht, wenn die Zutaten aus ökologischem Landbau stammen. Bio und vegan sind eben ein echtes Dreamteam.
Leseempfehlung: Biozyklisch-vegane Landwirtschaft — ein Bio-Landwirt zeigt wie es geht. → Gülle war gestern
→ Theresa Horbach