Im Wendland gärt es. Die Basis: gesunde Kulturen. In einem kleinen Gewerbegebiet am Rande eines Waldstücks in Hitzacker befindet sich die Manufaktur des Start-ups Gute Kulturen und der Marke Suur, die Swantje Theben 2018 gemeinsam mit ihrem Mann Martin und einem weiteren Mitinhaber gründete. Im Inneren der 600 Quadratmeter großen Produktionsstätte veredeln Mikroorganismen Bio-Weißkohl aus der Region. Entstanden aus einer persönlichen Passion für die uralte Methode der Fermentation, geht es Swantje Theben jedoch um mehr als gute Lebensmittel. »Wir glauben daran, dass Lebensmittel ein Faktor sind, mit dem wir diese Welt positiv beeinflussen können. Denkt man an Massentierhaltung oder den Gemüseanbau in konventioneller Landwirtschaft, wird schnell deutlich, welche Auswirkungen Ernährungsentscheidungen auf den Zustand unserer Welt haben«, sagt Swantje Theben.
Sinn statt Profit
Die Gründerin fühlt sich als Teil einer Bewegung junger Bio-Lebensmittelunternehmer:innen, die ein Unbehagen über den Zustand der Welt eint und der Wille, soziale, ökologische und ökonomische Verantwortung zu übernehmen. »Genau wie die ökologische Landwirtschaft einen lebendigen Boden als Resultat hat, fördern soziale Start-ups in der Bio-Branche Vielfalt und bereiten das Fundament eines Ökosystems, in dem menschliche Faktoren eine Rolle spielen, wo Kreativität wachsen kann, Zusammenarbeit gelebt wird und ein anderes Wirtschaften und Veränderung möglich werden«, sagt Theben. Nicht nur mit ihren Produkten will die Gründerin etwas Haltbares schaffen. 2020 wurde Suur mit dem Next Organic Start-up Award ausgezeichnet. Die Jury war nicht nur von der Qualität der Produkte überzeugt, sondern auch vom ganzheitlichen unternehmerischen Ansatz. Denn die Gute Kulturen GmbH hat sich intern als sogenanntes Purpose-Unternehmen im Verantwortungseigentum aufgestellt. Das bedeutet, Gewinne verbleiben im Unternehmen und das Unternehmen kann weder verkauft noch vererbt werden. »Natürlich sind auch für uns gute Verkaufszahlen grundsätzlich wichtig, unser Motto steht dennoch fest: Sinn statt Profit. Durch unsere Unternehmensform haben wir die Freiheit, uns voll auf unseren Unternehmenszweck zu konzentrieren – nämlich fermentierte Bio-Lebensmittel zu erzeugen, die gut für Mensch und Umwelt sind. Gewinnmaximierung spielt für uns keine Rolle«, sagt Theben.
Türen öffnen, nicht zuschlagen
Timm Duffner, Mitgründer der Lüneburger Bio-Müsli-Rösterei Heyho, ist auch so einer, der eine neue Form des Wirtschaftens verwirklichen will. Eine, die für Menschen funktioniert und sie in den Mittelpunkt stellt. »Da, wo andere Unternehmen die Tür zuschlagen, machen wir sie auf. Wir bieten Menschen eine Perspektive, die in der derzeitigen Arbeitsgesellschaft keinen Platz finden, etwa weil sie eine Suchthistorie haben, im Gefängnis saßen oder seelisch erkrankt sind«, sagt Timm Duffner. Gemeinsam mit Christian Schmidt und Stefan Buchholz, der 15 Jahre die Wohnungslosenhilfe in Lüneburg leitete, gründete Duffner, vor der Gründung als »Social Activist« für die Unilever-Eis-Marke Ben & Jerry’s tätig, 2016 Heyho. »Damals brachten uns viele Leute in der Branche ein freundliches Lächeln entgegen, gepaart mit der Aussage, unsere Idee würde nicht funktionieren.« Das Produkt sei zu teuer, das soziale Konzept nicht tragfähig, hieß es. Vier Jahre später rösten 22 Angestellte Bio-Granola für Heyho.
»Kapitalismus mit Ablasshandel«
Ursprünglich war Duffners Geschäftsidee eine andere: Auf der Rückseite von Müsliverpackungen sollten soziale Projekte vorgestellt werden. Dann wurde ihm klar, dass es ihm nicht reicht, die Geschichten anderer zu erzählen. Duffner: »Wir wollten selbst Teil der Veränderung werden. Das unterscheidet uns am meisten von vielen anderen sozialen Start-ups. Heyho lagert soziale Verantwortung nicht aus, sondern verwirklicht sie im Alltagsgeschäft.« Duffner beobachtet derzeit einen regelrechten Start-up-Hype, vermisst aber häufig die Konsequenz und das langfristige Denken, dass die Bio-Pionier-Unternehmen der 70er- und 80er-Jahre auszeichnete. »Es gibt eine Marktüberschwemmung von Unternehmen in allen Sparten, die Produkte einkaufen, schick verpacken und etwa bei jedem verkauften Produkt einen Baum pflanzen. Das ist zwar besser als gar nichts, bedeutet für mich aber nichts anderes als Kapitalismus mit Ablasshandel«, sagt Duffner.
Zurück in den gesellschaftlichen Diskurs
Sein eigenes Unternehmen zählt er selbstbewusst zu einer kleinen Gruppe von Social Start-ups, die ihr unternehmerisches Handeln auf den Werten der ersten Gründer:innengeneration aufsetzen. Eine Generation, zu der Volker Krause gehört, Bio-Pionier und geschäftsführender Gesellschafter des ökologischen Herstellers von Bio-Mühlenprodukten und Backwaren Bohlsener Mühle. Mit 27 Jahren übernahm er 1979 die wirtschaftlich bedrohte Mühle seines Vaters und stellte den Betrieb auf 100 Prozent Bio um. Die Welt war noch eine andere. »Zwar gab es damals die Klimakrise im heutigen Sinne noch nicht, aber die gesamten 70er-Jahre waren geprägt von massiven Umweltproblemen, angefangen beim Waldsterben über Tankerunglücke bis hin zu saurem Regen und stark verschmutzten Flüssen«, sagt Volker Krause. Neben familiärer Verbundenheit und Ehrfurcht vor der über 700-jährigen Mühlengeschichte war er vor allem systemkritisch, politisch und ökologisch motiviert. Heyho-Gründer Duffner, der in der Nähe von Lüneburg selbst einen kleinen Bio-Bauernhof besitzt, sagt: »Diese Gründer:innengeneration brachte die Wertschätzung gegenüber der Natur zurück in den gesellschaftlichen Diskurs. Wir Jüngeren sind damit aufgewachsen, konnten darüber eine Haltung entwickeln und haben vielleicht auch deshalb den Antrieb, weiterzudenken.« Eine Ansicht, die Salem El-Mogaddedi teilt. Gemeinsam mit Gernot Würtenberger gründete er 2015 das soziale Start-up Conflictfood, das mit Bio-Lebensmitteln aus Krisenregionen handelt. »Die Bio-Gründer:innen der ersten Generation sind einen wirklich harten Weg gegangen, weil sie in einer Zeit antraten, in der Bio von der großen Mehrheit belächelt wurde. Sie haben uns den Weg geebnet«, so Salem El-Mogaddedi.
Nachwuchs mit Erneuerungsfunktion
Laut Branchenreport der Ökologischen Lebensmittelwirtschaft ist Deutschland der größte Bio-Markt Europas. 2020 wird der Umsatz mit Bio-Lebensmitteln nach ersten Schätzungen der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner bei über 14 Milliarden Euro gelegen haben, ein Plus von 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Als die Bohlsener Mühle 1979 als nachhaltiges Unternehmen an den Start ging, gab es in Hamburg sechs Bio-Läden, wie sich Volker Krause erinnert. Der Hauptvertrieb lief über privat organisierte Lebensmittelkooperativen. Bestellungen nahm Krause per Telefon entgegen und notierte sie per Hand in einer Kladde. »Wir sind aus dem Kleinen rausgewachsen, letztendlich auch weil zu wenig nachgewachsen ist«, sagt Krause, der heute rund 300 Mitarbeitende beschäftigt. Für ihn haben soziale Start-ups eine relevante Erneuerungsfunktion. »Es ist wichtig, dass immer etwas nachwächst«, so Krause.
Als VWL- und Politik-Student betrachtete der Bio-Pionier den wirtschaftlichen Wachstumszwang bereits in den 70er-Jahren kritisch. Damals wie heute setzt er sich für eine ökologische Ökonomie ein. Dabei schließen sich soziale Verantwortung und Wirtschaftlichkeit für ihn nicht aus; neben Idealismus sei ein gewisser Rationalismus in sozialen Unternehmen wichtig. »Je effektiver ich wirtschafte, desto sozialer und gemeinnütziger kann ich wirken. Es ist wichtig, dass Unternehmen ihre Motivation wirklich durchleuchten und eine Agenda haben, auf der soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit im Fokus stehen«, sagt Krause.
Qualität, nicht Mitleid
Eine Agenda, die auch Salem El-Mogaddedi mit Conflictfood verfolgt. Einen verlässlichen Leitfaden bilden für ihn dabei die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, an denen Conflictfood das unternehmerische Handeln ausrichtet. Das Start-up handelt mit Bio-Tee, ‑Ingwer und ‑Kaffee aus Myanmar, mit Bio-Freekeh, einem Urgetreide aus Palästina und mit Safran, der von den Feldern eines Frauen-Kollektivs in Afghanistan stammt, das zuvor im Opiumanbau tätig war.
»Wir wollen, dass unsere Produkte gekauft werden, weil sie eine sehr gute Qualität haben – nicht aus Mitleid«, sagt El-Mogaddedi, der früher im Mode- und Marketingbereich sowie als freier Mitarbeiter für Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan und Pakistan aktiv war. »Wir sehen einen großen Hebel darin, Menschen in Krisenregionen neue Absatzmärkte zu eröffnen, sie fair zu bezahlen und so gemeinsam mit ihnen den Weg aus der Armut zu gehen und Fluchtursachen somit an der Wurzel zu bekämpfen«, sagt El-Mogaddedi. Ihm kommt es darauf an, dass diese Hilfe zur Selbsthilfe aufrichtig und wertschätzend ist, niemals bevormundend. »Entwicklungshilfe ist grundsätzlich sehr wichtig, jedoch dürfen wir die Menschen vor Ort nicht in eine Abhängigkeit oder Passivität bringen.«
Soziales Unternehmertum als Normalfall der Zukunft
Was Conflictfood neben qualitativ hochwertigen Produkten außerdem in die Welt tragen will: Länder wie Afghanistan sind mehr als Terror und Taliban. Zu jedem Produkt erhalten die Kunden und Kundinnen – analog als Journal oder digital per QR-Code-Scan – Informationen zur (Ess-)Kultur des jeweiligen Landes. So will El-Mogadeddi das Bewusstsein dafür schärfen, dass Essen immer auch eine politische Handlung ist. »Am besten wäre es natürlich, wenn es Conflictfood gar nicht gäbe. Aber die Welt ist leider nicht frei von Kriegen und Konflikten. Uns ist es wichtig, dass Menschen ihren Konsum reflektieren. Wenn ich etwas kaufe, muss ich mich immer fragen: ›Ist es ein nachhaltiges Produkt oder leiden in der Wertschöpfungskette Mensch, Tier und Natur?‹«
Was die Bio-Pionier:innen der späten 70er und die heutige Gründer:innengeneration verbindet: Sie fühlen sich als Teil einer Bewegung, die alles daran setzt, nachhaltig ökonomische, ökologische und soziale Zukunftslösungen für Umwelt und Gesellschaft zu finden. Und sie wollen Impulse für Veränderung setzen. »Man muss bei sich selbst anfangen und darf die Verantwortung nicht auslagern«, sagt Heyho-Gründer Duffner. Derzeit arbeitet die Lüneburger Bio-Rösterei mit Hochdruck an der Replizierbarkeit ihres Geschäftsmodells. »Wir wollen andere Unternehmen künftig dabei begleiten, so zu arbeiten wie wir.« Soziales Unternehmertum soll künftig keine Ausnahme mehr sein, sondern die Norm.
→ Text von Esther Sambale
→ Zur Website von conflictfood
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 90 — Frühjahr 2021