2020 veröffentlichte das Bündniss sie zusammen mit dem Umwelt Institut München e. V. die Studie »Pestizid-Belastung der Luft«. An der Entstehung der Studie waren neben dem Forschungsbüro TIEM und Laboren auch zahlreiche Privatpersonen und Bio-Unternehmen beteiligt. Bioboom Redakteurin Jeanine Tovar hat mit Niels Kohlschütter darüber gesprochen, was die Ergebnisse der Studie bewirkt haben, wie »Citizen Science« Menschen mobilisieren kann und welche Wege und Prozesse in eine enkeltaugliche Zukunft führen können.
JT Eure Studie hat Daten zu einem Bereich geliefert, zu dem es vorher keine Informationen gab, beziehungsweise sie hat etwas belegt, was bisher als nicht existent galt, nämlich dass sich Pestizide über die Luft, die wir atmen, bis in die entlegensten Winkel Deutschlands verbreiten. Wie war die Reaktion der Öffentlichkeit?
NK Das Grundziel des Bündnisses ist ein sehr langfristiges, nämlich dass in Deutschland eine enkeltaugliche – und das heißt für uns pestizidfreie – Landwirtschaft betrieben wird. Da reicht es nicht, eine Studie zu machen und zack, es ändert sich etwas. Aber die direkte, kurzfristige Reaktion, die war doch überraschend intensiv. Wir hatten Glück, weil die damalige Umweltministerin Svenja Schulze die Studie persönlich in Empfang genommen hat, noch dazu an ihrem Geburtstag. Das hat natürlich die Wahrnehmung in den Medien erhöht. Es gab wirklich eine breite Berichterstattung, von tagesschau.de bis hin zu landwirtschaftlichen Magazinen, und die Daten haben viel Aufmerksamkeit erfahren und viele Menschen haben das Thema wahrgenommen.
JT Also definitiv ein schöner Erfolg. Welche Rolle hat Citizen Science, also die direkte Beteiligung von Bürger:innen für diese Studie gespielt? Oder anders gefragt: Hätte man die Studie nicht auch »ganz normal« durchführen können?
NK Theoretisch ja, aber es wäre schwieriger gewesen. Wir haben im Vorfeld der Planung nach Partnern wie staatlichen Institutionen, Prüflaboren und Prüfeinrichtungen Ausschau gehalten. Es gab einfach keine öffentliche oder institutionelle Struktur, die das so hätte leisten können oder machen wollen. Am Ende besteht eine große Stärke der Studie darin, dass über 160 Standorte in ganz Deutschland einbezogen wurden, von Naturschutzgebieten bis zu urbanen Ballungszentren. So viele Standorte – die wollen betreut werden. Das war nur zu stemmen, weil es Menschen gab, die das als Gemeinschaftsaufgabe gesehen, die nach den Messstationen geschaut, Filter gewechselt, Proben eingeschickt haben. Und natürlich ist ein weiterer total schöner Nebeneffekt, dass alle diese Beteiligten Multiplikator:innen für das Thema geworden sind.
JT Wie waren denn die Stimmen aus der Wissenschaft? Das Thema Pestizide wird ja sehr kontrovers diskutiert. Gab es Kritik an der Methodik, Datenqualität oder eben der Tatsache, dass die Daten von Laien erhoben wurden?
NK Nein, überhaupt nicht. Allerdings: Die Resonanz aus den Verbänden der Agrar-Industrie, von Pestizid-Herstellern wie Bayer usw. die war natürlich sehr negativ. Da ging es aber gar nicht um die Methodik oder die Daten, sondern darum, die Ergebnisse im wahrsten Sinne des Wortes kleinzureden, so nach dem Motto: Ach, die Mengen sind so klein, das spielt doch gar keine Rolle. Oder zu relativieren, indem unzutreffende Vergleiche gezogen wurden. Das war eher so eine Nebelkerzen-Diskussion.
JT Aus der Ecke hattet Ihr aber vermutlich eh kein Lob erwartet?
NK Nein, aber wir haben uns durchaus geehrt gefühlt, dass so intensiv darauf eingegangen wurde, das ist ja auch eine Art von Kompliment… Wir haben die Ergebnisse sehr transparent zur Verfügung gestellt, als Excel-Tabellen, jeder kann reingucken, jeder kann nachrechnen. Jeder kann mit den Ergebnissen weiterarbeiten. Es gab tatsächlich eine kritische Nachfrage zu einem bestimmten Sachverhalt. Das haben wir geprüft und konnten feststellen — nein, es ist konsistent. Damit war die Kritik auch vom Tisch.
»Die Probleme werden nicht verschwinden und wir müssen lernen, damit umzugehen. Die Frage ist, wie werden wir das tun? Und da sind wir wieder bei der Alternative zwischen technischen und ganzheitlichen Lösungen.«
JT Transparenz schaffen, Multiplikatoren einbinden – das hat für mich eine hohe Relevanz in einer Zeit, in der wir ja auch ziemlich viel Wissenschaftsskepsis erleben. Citizen Science bringt Wissenschaftler:innen und Bürger:innen in Kontakt miteinander. Was meinst Du, können solche Projekte auch einen Beitrag dazu leisten, eine Brücke zu schlagen zwischen der »abgehobenen Forschung« und dem »richtigen Leben«?
NK Ja, das glaube ich schon. Im Bereich Citizen Science gibt es verschiedene Ansätze. Das, was wir gemacht haben, war ja nur bedingt partizipativ. Von vorneherein war klar, was die Fragestellung ist, welche Verfahren genutzt werden und welche Tätigkeiten Beteiligte übernehmen können. Genau deshalb hat die Studie eine wissenschaftlich solide Basis. Ein anderer Ansatz bei Citizen Science ist, dass man die Forschungsansätze selbst direkt mit den Menschen, die dabei sind, gemeinsam entwickelt und diskutiert, wodurch noch einmal deutlich mehr Beteiligung möglich wird. Es gab zum Beispiel ein Citizen Science-Projekt, das sich gezielt an Schülerinnen und Schüler gewendet hat. Es ging darum, Siegel und Aussagen auf Fischprodukten zu überprüfen. Die Schüler:innen haben sich angesehen, welche Aussagen gemacht werden und konnten Proben der Fischprodukte einschicken. Dann wurde im Labor analytisch nachgeprüft, ob der Fisch zum Beispiel wirklich aus dem angegebenen Fanggebiet stammte. Das Projekt kam zu dem Ergebnis, dass das, was auf der Packung stand, oft nicht mit der Realität übereinstimmte. Das war natürlich nicht so schön. Aber es hatte zur Folge, dass die Schülerinnen und Schüler mitbekommen haben, dass sie aufpassen müssen, wenn ihnen von Marken etwas versprochen wird. Für die Hersteller war der Lerneffekt, hoppla, wir müssen schon aufpassen und einhalten, was wir versprechen. Und die Politik hat den Hinweis gekriegt: Hey, man kann sich nicht nur einfach freuen, dass es jetzt Siegel gibt, man muss die Einhaltung auch überprüfen. Also, Citizen Science kann Resultate auf verschiedenen Ebenen erzielen. Die Studie zur Pestizidbelastung der Luft hat zum Beispiel wesentlich dazu beigetragen, dass nun ein staatliches Monitoring der Luft auf Pestizidwirkstoffe vorbereitet wird.
JT Durch Forschung Fakten zu ermitteln, ist das eine. Sie der Öffentlichkeit zu vermitteln, so dass sie gesellschaftliche Themen werden und am Ende politisches Handeln auslösen, das ist das andere. Auch dafür engagiert sich das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft. Was tut Ihr, um Eure Themen in Handlungsimpulse umzusetzen?
NK Als Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft sprechen wir zwei Ebenen an: Zum einen die deutsche und europäische Politik. Bis jetzt galt, dass sich Pestizide nicht durch die Luft verbreiten. Wenn das jetzt durch handfeste Forschungsergebnisse widerlegt wird, dann muss das Zulassungsverfahren für Pestizide auf EU-Ebene angepasst werden. Wir haben zum Beispiel ein Webinar mit EU-Parlamentariern gemacht, in Kooperation mit dem Büro von Martin Häusling (Anm. d. Red.: Häusling ist agrarpolitischer Sprecher der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament). An der Online-Veranstaltung haben über 200 Menschen aus Politik, Presse sowie Forschung aber auch Wirtschaft teilgenommen. So konnten wir das Thema genau dort platzieren, wo diskutiert und entschieden wird. Auch auf Bundesebene versuchen wir, die Stellen zu erreichen, an denen die Entscheidungen getroffen werden. Um Rahmenbedingungen zu ändern, braucht es eine Bereitschaft, sie zu ändern. Dazu gehört eine Sensibilisierung der Gesellschaft genauso wie der Politik. Also ist es wichtig, dass wir das Thema auch in die Gesellschaft tragen, mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Das tun wir durch Informationsarbeit, Broschüren usw. Dabei arbeiten wir eng mit Bio-Herstellern, dem Bio-Fachhandel und dem Branchenverband BNN zusammen. So erreichen wir Menschen, die für dieses Thema offen sind – aber natürlich geht es letztlich darum, dass wir aus dieser »Bio-Blase« rauskommen. Da gilt es, dranzubleiben.
JT Das sind ja auch ganz schön dicke Bretter, die da gebohrt werden müssen … Stichwort »raus aus der Blase«“: Zwischen der konventionellen Landwirtschaft und den ökologisch wirtschaftenden Betrieben klaffen tiefe Gräben, sind Diskussionen oft sehr kontrovers. Ihr versucht über Dialogplattformen Landwirt:innen beider Seiten ins Gespräch zu bringen. Wie funktioniert so etwas?
NK Auch da braucht es einen langen Atem. Pestizideinsatz ist ein Thema, das spaltet. Aber wir haben festgestellt, dass es einen gemeinsamen Nenner gibt. Allen Landwirtinnen und Landwirten liegt ihr Boden am Herzen: dass er gesund ist, fruchtbar, ein gutes Wasserhaltevermögen hat. Und da kann man Zusammenhänge sichtbar machen, zum Beispiel dass Bodenorganismen wie Pilze, die für die Bodengesundheit wichtig sind, nachhaltig leiden, wenn Fungizide eingesetzt werden. Natürlich spielen da auch die aktuellen Entwicklungen eine Rolle. Wenn es darum ging, eine Pestizid-Abgabe wie in der von der GLS Bank initiierten Studie auch nur zu diskutieren, hieß es bis jetzt immer: Das können wir nicht machen, das wird alles viel zu teuer. Aktuell sind Pestizide bereits viel teurer, als sie durch eine zusätzliche finanzielle Abgabe je geworden wären. Auch bei der Frage, wie geht die Landwirtschaft mit dem Klimawandel um, beobachte ich, dass sich wieder eine Diskussion um zwei unterschiedliche Wege abzeichnet. Es gibt eine Fraktion, die setzt primär auf technische Lösungen, sei es durch Hochleistungszüchtung, Digitalisierung und so weiter. Die andere Seite sagt, wir brauchen einen echten Systemwandel, müssen das ganzheitlich angehen. Wir brauchen Lösungen, die die Biodiversität erhalten, das Trinkwasser schützen, die planetaren Grenzen respektieren.
»Auch der Ökolandbau ist keine fertige Lösung, sondern muss sich ebenfalls an neue Rahmenbedingungen anpassen, sich neuen Aufgaben stellen. Da ist es gut, Ideen und Ansätze wissenschaftlich zu überprüfen. Wir brauchen beide.«
JT Auf der Suche nach dem Weg: Wie gehen Agrar-Wissenschaft und der traditionell eher praxisorientierte ökologische Landbau zusammen?
NK Beide können sich gegenseitig gut unterstützen und befruchten. Eine Studie wie zum Beispiel unsere zeigt ja nicht eine Lösung, sie zeigt ein Problem. Das führt dann zu der Motivation, zu handeln, etwas anders machen zu wollen. Auch der Ökolandbau ist keine fertige Lösung, sondern muss sich ebenfalls an neue Rahmenbedingungen anpassen, sich neuen Aufgaben stellen. Da ist es gut, Ideen und Ansätze wissenschaftlich zu überprüfen. Wir brauchen beide.
JT Die Veröffentlichung der Studie »Pestizide in der Luft« ist nun zwei Jahre her. Habt Ihr Anschlussprojekte geplant?
NK Die Funktion des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft besteht nicht in erster Linie darin, agrarwissenschaftliche Forschung zu betreiben. Wir wollten mit dieser Initial-Studie auf einen Missstand aufmerksam machen. Und die Veröffentlichung dieser Studie wirkt immer noch nach, wir sind noch mittendrin in der Rezeption/Aufarbeitung, das ist noch nicht abgehakt. Das Weiterarbeiten mit den Ergebnissen braucht Zeit und Geduld, um damit Wirkung entfalten zu können.
JT Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel: Wir sind aktuell als Menschheit in einer extrem verunsichernden Situation. Steht zu befürchten, dass unsere Themen wie Ökologisierung der Landwirtschaft, Ausrichtung unserer Systeme in Richtung Nachhaltigkeit, dass die auf der Strecke bleiben könnten?
NK Ich glaube nicht, dass sich alles schnell zum Guten wenden wird. Wenn ich nur das Beispiel Klimawandel nehme: Selbst wenn wir ab jetzt alle denkbaren Maßnahmen ergreifen würden, ließe er sich nicht ohne Weiteres stoppen. Die Landwirtschaft wird weiterhin mit Trockenheit, Hitze, verschobenen Niederschlägen und so weiter konfrontiert sein. Die Probleme werden nicht verschwinden und wir müssen lernen, damit umzugehen. Die Frage ist, wie werden wir das tun? Und da sind wir wieder bei der Alternative zwischen technischen und ganzheitlichen Lösungen. Ich habe neulich ein Gespräch mit einem Milchbauern geführt, der selber seine Rinder züchtet. Seine Kühe sind mittelrahmig, also mittelgroß. Er hat sich bewusst dafür entschieden, nicht auf die großen Hochleistungstiere zu setzen. Sein Grund: Anpassungsfähigkeit. Wenn das Futter mal nicht so gut ist, dann ist die Milchleistung zwar niedriger, aber seine Kühe kommen damit klar, ebenso, wie sie auch höhere Temperaturen besser aushalten. Ein kleines, konkretes Beispiel dafür, wie Wirtschaften aussehen kann, wenn wir nicht auf volle Leistung gehen, sondern auf Standortanpassung und Gleichgewicht setzen. Ich setze mit meinen Hoffnungen und meinem Engagement auf solche Wege, damit wir anpassungsfähig werden für all das, was auf uns zukommt. Etwas, das wir heute noch nicht umfassend abschätzen können.
Vielen Dank für das Gespräch!
© Foto Einleitung: Angela M. Schlabitz