Mitten im nordwestdeutschen Tiefland, von Wiesen und Äckern umrahmt, steht die Elbland Bio-Mühle. Die grün-blaue Fassade und die zwei großen Silos sind auf dem flachen Land weithin sichtbar. Graue, regengetränkte Wolken ziehen über den Himmel, während der Wind über den asphaltierten Hof pfeift. »Wir arbeiten momentan bis an die Erschöpfungsgrenze«, sagt Frank Plüschke, 58, Geschäftsführer der Flechtdorfer Mühle, zu der auch die Elbland Bio-Mühle gehört. »Die Nachfrage ist aufgrund der Krisensituation höher, als das, was die Mühlen wirtschaftlich leisten können.«
Ukraine und Russland – die Kornkammern der Welt
»Die Ukraine ist in Bezug auf den weltweiten Weizen-Exportmarkt ein Blockbuster«, sagt Frank Plüschke. »Russland und die Ukraine versorgen die afrikanischen und arabischen Länder mit Weizen«, sagt er. Die Exporte laufen über das Asowsche und Schwarze Meer, also über die Regionen, die heute beschossen und in denen Seeminen immer mehr zur Gefahr werden. Wenn die Weizen-Exporte ausbleiben, ist Hunger die Folge. In vielen Ländern können sich ärmere Menschen schon heute die Lebensmittel aufgrund der rasant steigenden Preise kaum noch leisten.
»Und obwohl unsere Bio-Getreide gar nicht aus Russland oder der Ukraine kommt, hat die Situation Folgen für unseren heimischen Markt«, sagt Frank Plüschke. Denn die Preise für den Weizen werden am Weltmarkt gehandelt. »Eine Verknappung am Weltmarkt hat explodierende Preise zur Folge. Der Weizenpreis hat sich innerhalb von wenigen Wochen verdoppelt.« Mittlerweile, so der Experte, sei bis zur Ernte kaum noch Bio-Weizen zu bekommen. »Der Markt ist so gut wie leer.« Sprich: Wer keine Kontrakte hat oder jetzt spontan mehr produzieren möchte, kann das nur, wenn er erheblich draufzahlt. Und nicht nur das knappe Angebot verteuert das Mehl. »Die Preise von Diesel, Strom und die Verpackung haben sich ebenfalls verdoppelt, der Preis vom Gas sogar vervielfacht«, sagt Frank Plüschke. In Rosche sind die Silos gut gefüllt. »Wir sind vorsichtige Müller«, sagt der Geschäftsführer, »wenn wir Kontrakte über 1000 Tonnen Mehl schließen, kaufen wir 1300 Tonnen Getreide ein.«
In anderen Mühlen werden Mehl-Verkäufe mehr oder weniger eins zu eins mit Getreide gegengedeckt. Doch bei der Elbland Bio-Mühle berechnen sie den Einkauf großzügig. »Das macht es derzeit überhaupt erst möglich, lieferfähig zu sein.« Wer heute mehr Mehl kaufen will, als in den Kontrakten mit der Mühle vereinbart, muss allerdings draufzahlen. »Der aktuelle Mehlpreis ist etwa doppelt so hoch wie vorher«, sagt Frank Plüschke, »wenn wir die Preise nicht erhöhen, könnten wir hier innerhalb von acht Wochen den Schlüssel rumdrehen.«
»Nur weil wir uns in einer Krise befinden, werfen wir nicht alles, was wir erreicht haben, über den Haufen.«
Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen
Über neun Millionen Bio-Endverbraucherverpackungen- und tüten produziert die Elbland Bio-Mühle jedes Jahr. Sie vermahlt Roggen, Weizen und Dinkel, wobei Weizen den größten Teil ausmacht. »Wir liefern Fremdmarken, haben aber auch unsere Eigenmarke«, sagt Werksleiter Sebastian Stein, 41. Das Getreide kommt zu rund zwei Dritteln aus Deutschland. »Wir kennen unsere Landwirte, besuchen sie vor Ort, schauen, wie sie arbeiten. Das ist uns wichtig.« Das restliche Getreide kommt aus EU-Ländern, beispielsweise aus Polen, aber auch aus den baltischen Staaten. »Diese Betriebe kennen wir ebenfalls persönlich«, sagt Sebastian Stein. Über das Meer sei der Transport vom Baltikum aus problemlos möglich – und nachhaltig sei er auch. »Wir sind hier ja nicht so weit weg vom Wasser.« Der Trend gehe aber zum deutschen Bio-Getreide. Je regionaler desto besser. »Immer mehr Betriebe fassen regional Fuß und stellen ihre Äcker auf Bio um«, sagt Sebastian Stein. Und die Branche professionalisiere sich. »Die Profi-Biobetriebe sind keine Kleingärtner mehr«, ergänzt Frank Plüschke. Bio könne heute nicht mehr mit Bio von vor fünf oder zehn Jahren verglichen werden. »Durch gute Bewirtschaftung der Flächen schaffen sie es, akzeptable Erträge zu erreichen.« Das sei wichtig, damit mehr Bio produziert werden kann. »Noch ernährt die konventionelle Landwirtschaft die Welt. Die Erträge im konventionellen Bereich sind mindestens doppelt so hoch, wie die Erträge auf Bio-Äckern.« Trotzdem sieht der Geschäftsführer auch in der derzeitigen Lage keinen Grund, die Nachhaltigkeits- und Klimaziele hintenanzustellen. »Schon aus ökonomischen Gründen versuchen wir Energie, wo immer möglich, einzusparen.« Ökologie und Ökonomie müssten kein Widerspruch sein. »An dem energieaufwendigen Prozess können wir nichts ändern, aber wir können ihn steuern und so nachhaltig gestalten wie möglich.« Jetzt die Uhren zurückzudrehen, sei keine Option. »Nur weil wir uns in einer Krise befinden, werfen wir nicht alles, was wir erreicht haben, über den Haufen.«
Modernisiertes Handwerk
Wo einst Windräder die Mühle antrieben, mahlt heute hochmoderne Technik das Getreide. Gerade erst wurde die Elbland-Biomühle modernisiert: Wände, Böden und Decken wurden neu beschichtet und versiegelt, die Maschinen erneuert. »Ein Schätzchen«, nennt Werksleiter Sebastian Stein die Mühle. Schnellen Schrittes läuft er vom Bürogebäude aus über den Hof bis zur eigentlichen Mühle hin. »Zwölf Getreidezellen hat die Mühle auf dem eigenen Gelände«, erklärt er, »genug Platz für ca. 2.500 Tonnen Getreide, zusätzlich werden externe Getreidesilos genutzt.« In der Mühle geht es zunächst nach ganz oben. Hier beginnt für das Korn seine Reise durch die Mühle bis es fünfzehn Minuten später als gemahlenes Produkt wieder herauskommt. Trotz des Produktionsdrucks sind die meisten Räume der Mühle menschenleer. Nur die Maschinen rattern laut und ununterbrochen vor sich hin. Der Boden wummert.
»Müller werden? Da kommt einfach keiner drauf«
»Wir kommen jetzt zum Herz unserer Mühle, dem Walzenboden«, sagt Sebastian Stein, »dort stehen die Walzenstühle.« Auch hier verhindert der Lärm fast jedes Gespräch. Erst im Kontrollraum brummt das Wummern der Maschinen nur noch dumpf durch die Scheiben. Am Schaltschrank steht Müllergeselle Jörn Jansen. Die zahlreichen Schalter, Lichter und Knöpfe sind mit Mehl bestaubt. Langsam dreht Jörn Jansen an einem schwarzen Knopf und blickt dabei auf eine Anzeige weiter oben. Lange verbringt er nicht in dem Raum, ein paar Minuten vielleicht, dann ist er wieder in der Mühle unterwegs. Der gelernte Tischler hat in der Elbland Bio-Mühle zunächst als Maschinenanlagenfahrer gearbeitet. »Und dann bin ich irgendwie hier hängengeblieben«, sagt er und lacht. »Uns fehlten die Müller und er hat seinen Job gut gemacht, also haben wir ihm eine Ausbildung angeboten«, sagt Sebastian Stein. Niemand beschließe von sich aus , Müller zu werden, »da kommt einfach keiner drauf. Man muss schon darüber stolpern.« Dass Jörn Jansen in der Mühle arbeitet, ist für Geschäftsführer Frank Plüschke auch ein Baustein im Nachhaltigkeitskonstrukt des Unternehmens. Nun führe er die Mühle mit. Was die drei Männer eint, ist die Leidenschaft für das Produkt Mehl. »Da steckt so viel Liebe der Landwirtschaft drin und so viel Knowhow«, sagt Sebastian Stein. Er öffnet eine Luke und entnimmt eine Probe des gemahlenen Korns, es wird gefachsimpelt. Danach macht der Geschäftsführer zusammen mit dem Werksleiter noch einen Abstecher ins Lager. Im Gegensatz zur Mühle herrscht im Lager emsiges Treiben. Auf einen Lastwagen werden palettenweise Mehlpackungen verladen. Alle grüßen sich, wechseln ein paar Wörter miteinander, lachen. »Ein großes Lob geht an unser Team«, sagt Sebastian Stein, »obwohl der Anspruch und die Stundenleistung gerade so hoch sind, kommen sie immer noch mit Freude zur Arbeit.«
»Wenn wir diesen ganzen Krisen überhaupt etwas Positives abgewinnen könnten, ist es, dass das Mehl mal wieder mehr ins Bewusstsein der Menschen gerät.«
Mehl im Überfluss – eigentlich
Der Geschäftsführer blickt derweil auf die bis unter die Hallendecke gestapelten Mehlpackungen in den Regalen. Die Angst vor leeren Mehl-Regalen sei nicht ganz unbegründet. Zwar wird in Deutschland theoretisch genügend Weizen angebaut, um Mensch und Tier hierzulande zu ernähren. Doch in Deutschland wird Weizen nicht nur als Nahrungsgrundlage und Futter, sondern auch für die Herstellung von Biodiesel genutzt. »Deshalb müssen wir Getreide einführen, obwohl wir – was die menschliche Ernährung angeht – ein Überflussland sind.« Momentan wisse niemand, wie sich die Lage entwickelt. Ungarn hat bereits ein Exportverbot für Getreide verhängt. »Auch in Polen und Tschechien sieht es nicht gut aus«, sagt Frank Plüschke. Wann die Felder reif für die Ernte sind, könne niemand vorhersagen. Aufgrund der Witterungseinflüsse ist der Erntezeitpunkt nicht fix. In manchen Jahren ist es schon im Juli soweit, in anderen müssen sich die Landwirt:innen und damit auch die Mühlen bis Mitte August gedulden.
Mehr Wertschätzung für Mehl und das, was daraus wird
Was in Deutschland fehle, sei die Wertschätzung für das Produkt Mehl, findet Frank Plüschke. »Ein Kilo Bio-Mehl kostet etwa 1,50 Euro und mit etwas Wasser und Salz kann ich daraus etwa 30 Brötchen backen«, rechnet er vor, »damit bekommen Sie eine vierköpfige Familie zwei Tage lang satt.« Doch statt in den Mägen der Menschen landen Brot und Backwaren in vielen deutschen Haushalten in Mülleimern und grünen Tonnen. »Wenn wir diesen ganzen Krisen überhaupt etwas Positives abgewinnen könnten, ist es, dass das Mehl mal wieder mehr ins Bewusstsein der Menschen gerät.« In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werde das Grundnahrungsmittel durch die krisengeschüttelte und von Klimakatastrophen aufgerüttelte Welt noch viel mehr in den Fokus geraten.
Denn fast jeder jeder Mensch konsumiert täglich Weizen, beziehungsweise Mehl: als Brot, Nudeln, Salzstange, Kuchen oder auch in Form von Stärke in Getränken. »Mehl ist ein total unterschätztes Produkt und wird für selbstverständlich genommen.« Doch schon heute hungern nach Schätzungen der Welthungerhilfe bis zu 811 Millionen Menschen, über zwei Milliarden leiden an Mangelernährung. Und die Weltbevölkerung wächst rasant. »Wir haben jedes Jahr rund 80 Millionen Menschen mehr auf diesem Planeten, in zwölf Jahren sind das knapp eine Milliarde.« Und die müssen ernährt werden.
→ Kristin Kasten
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 95 — Sommer 2022