Hier steht Bio nicht nur mit im Regal, sondern auf dem Ladenschild: Und rund um die Uhr auf der Agenda. Nein, ironisch sei das nicht gemeint gewesen, beteuert Eva Kiene von der Firma Rapunzel. Unternehmensgründer Joseph Wilhelm habe eine positive Lebenseinstellung. Und »danke« zu sagen, gehöre nun mal zu seinen Prinzipien. Gleichwohl mutete die Plakataktion von Rapunzel im Frühjahr auf den ersten Blick etwas seltsam an: »Danke, liebe Rewe, Edeka, Lidl, Aldi, dm und Co., dass ihr so viel Werbung für Bioprodukte macht«, hieß es dort in fett gedruckten Buchstaben. Nur wer weiter las, erkannte, dass die Sache doch einen kleinen Haken hatte. »Wenn ihr eure Bioprodukte mit der gleichen Begeisterung verkauft wie die 95 Prozent eures konventionellen Sortiments, freut das unsere Umwelt sehr.«
Ein grün getupftes Mäntelchen
Die Rapunzel-Aktion spricht einen Umstand an, über den sich der sogenannte Bio-Fachhandel in den vergangenen Jahren sehr geärgert hat: Der konventionelle Lebensmittel-Einzelhandel (LEH), sprich Rewe, Edeka, Aldi, Lidl und Co., versucht, sich mit dem Verkauf von ökologisch hergestellten Produkten ein grünes Mäntelchen umzuhängen – das aber in Wirklichkeit allenfalls ein paar grüne Tupfer hat, der Rest dagegen ist von grün weit entfernt. Denn es gibt sie zwar, die Bio-Sortimente in den Supermärkten und Discountern. Doch das Gros der Regalware im LEH kommt noch immer von pestizidgespritzten Feldern und aus der qualvollen Massentierhaltung, wird ohne Rücksicht auf faires Wirtschaften oder die endlichen Ressourcen unseres Planeten hergestellt.
Damit lassen sich aber keine Pluspunkte beim Verbraucher sammeln, mit den Bio-Lebensmitteln dagegen schon. Entsprechend offensiv wird dafür Werbung gemacht. Das ist nicht nur gut fürs Image, sondern auch für die Bilanz. Das Geschäft brummt: Der LEH steigerte seinen Umsatz mit Bio-Lebensmitteln und ‑Getränken im Jahr 2019 um 11,4 Prozent. Mit insgesamt 7,13 Milliarden Euro erreichten Supermärkte, Discounter und Drogeriemärkte fast 60 Prozent des gesamten Bio-Umsatzes – so die Zahlen des aktuellen Branchenreports vom Bundesverband Ökologische Lebensmittelwirtschaft.
Bestes Bio beim Billigheimer
Zusätzlich zu einem großen Stück vom Umsatz-Kuchen hat sich der LEH auch noch das Sahnehäubchen geholt: Die sogenannte »Verbandsware«. Lange Zeit gab es Lebensmittel mit den Siegeln der ökologischen Anbauverbände (Bioland, Demeter, Naturland) nämlich ausschließlich im Bio-Fachhandel. Die Bio-Produkte in Supermärkten und Discountern hatten in der Regel »nur« das EU-Biosiegel. Das stellt zwar auch bestimmte Anforderungen an die Produzenten und Verarbeiter. Die Anbauverbände aber haben in etlichen Punkten deutlich strengere Vorschriften. So konnte der Bio-Handel sicher damit punkten, dass es das »Premium-Bio« eben nur im angestammten Kanal gab. Doch das ist Vergangenheit.
Seit Herbst 2018 gibt es bei Lidl auch Produkte des ökologischen Anbauverbandes Bioland. Die ebenfalls zur Schwarz-Gruppe gehörende Kette Kaufland zog Anfang 2019 mit Demeter-Artikeln nach. Für die Branche ein Tabubruch: Bioland und Demeter lieferten qualitativ hochwertige Bio-Lebensmittel an Geschäftspartner, deren Erfolgsmodell auf Billig-Angeboten und Preisdumping beruht. Befürchtet wurde nicht nur, dass sich die Billigheimer nun mit dem Bio-Angebot brüsten und noch mehr Kunden abwerben. Sondern auch, dass die klassischen Nur Bio-Händler einem Preiskampf ausgesetzt werden, den sie nicht gewinnen können.
Mehr Bio-Absatz, ökologischere Zukunft
Auf der anderen Seite: Für die Anbauverbände gab es gute Gründe, sich für die Kooperation mit Lidl und Co. zu entschließen. Schließlich kaufen viele Leute ein, die nicht in den Bio-Markt gehen, die Absatzmöglichkeiten sind groß. Und wenn mehr Bio verkauft wird, dann ist das ein gutes Argument, wenn es darum geht, noch mehr Bauern zur Umstellung von konventionell auf ökologisch zu bewegen. Denn der Flächenanteil des ökologischen Landbaus an der gesamten Landwirtschaft liegt in Deutschland erst bei 10,1 Prozent. Politisch gewollt sind 20 Prozent bis zum Jahr 2030. Für den Klimaschutz und die Artenvielfalt wäre es gut, wenn der Ökolandbau noch viel stärker wüchse.
Bio für alle – aber wo und wie?
Mehr Bio-Landwirtschaft wird es also nur geben, wenn auch mehr Menschen Bio- Lebensmittel kaufen, so die einfache Rechnung. »Wir als Branche haben es nicht geschafft, die breite Masse für Bio zu begeistern, das müssen wir uns eingestehen«, merkt Eva Kiene von Rapunzel selbstkritisch an. »Bio für alle – das ist eben allein mit dem Fachhandel nicht zu schaffen, dafür braucht es auch die anderen Vertriebskanäle.« Dort wünscht sie sich allerdings »ein anderes Engagement und eine andere Überzeugung« mit Blick auf das Gesamtsortiment: »Vielleicht können wir die großen Player inspirieren, mehr auf ihre Lieferketten zu achten.« Insgesamt wünsche sie sich »mehr Miteinander als Gegeneinander«.
Klar ist aber auch, dass es die Marke Rapunzel weiterhin nur im Naturkost-Fachhandel geben wird. So wie Rapunzel machen es viele der Unternehmen, die mit den Bio-Pionieren gewachsen und groß geworden sind: Sie liefern nicht in Supermärkte und Discounter. Diese sogenannte »Fachhandelstreue« wird vom Bio-Handel häufig vehement eingefordert. Schließlich sollen seine Kunden im Regal »ihres« Bio-Marktes möglichst Produkte und Marken finden, die es anderswo nicht gibt – »Alleinstellungsmerkmal« heißt das im Händlerdeutsch.
Deutlich zeigen, dass man besser ist
Nicht nur, dass Alleinstellungsmerkmale in den vergangenen Jahren verloren gingen – oft werden sie auch einfach von den Werbestrategen des LEH gekapert. Zum Beispiel das Thema »Nähe zum Erzeuger« beziehungsweise »Regionalität«: Längst stehen im Discounter kantige Bauerntypen mit erdigen Händen als lächelnde Pappfigur neben dem Gemüse, suggerieren Regionalität und direkte Lieferbeziehungen. Die Bios, die seit Entstehung in den 1970er Jahren traditionell auf enge und faire Beziehungen zu regionalen (und globalen) Erzeugern setzen, halten sich oft vornehm zurück. Nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern oft schlicht, weil sie es für selbstverständlich halten.
Dabei wäre es höchste Zeit, sich deutlich zu profilieren, findet Prof. Ulrich Hamm von der Universität Kassel. Er leitete bis März 2020 am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften das Fachgebiet »Agrar- und Lebensmittelmarketing«, beobachtet die Bio-Branche schon seit langem und spart nicht mit Kritik. So hätten es die Bio-Händler verpasst, sich frühzeitig als Einkaufsgemeinschaft zusammenzuschließen, von einer gemeinsamen Logistik zu profitieren und damit im Preiswettbewerb mit den Supermärkten bestehen zu können. »Die Tante-Emma-Läden auf dem Dorf früher, das waren auch Individualisten. Aber die haben es trotzdem geschafft, sich zu Edeka- oder Rewe-Einkaufsgemeinschaften zusammenzutun.«
Mit gemeinsamen Handeln hätten sich die Bio-Handelsakteure zu lange schwer getan. Jetzt müsse jeder eben seine Nische finden – und ein Sortiment, das den jeweiligen Kunden gefällt und sie anspricht. »Das kann neben regionalen Spezialitäten auch eine gut sortierte Fleischtheke sein«, findet Hamm, »Hofläden machen damit teilweise richtig gute Umsätze«. Allein mit dem Verweis darauf, sich immer schon für Klimaschutz, fairen Handel, Tierwohl und Artenvielfalt eingesetzt zu haben, seien auf Dauer keine neuen Kunden zu gewinnen: »Das ist ein Strohfeuer, das ist nach ein bis zwei Jahren erloschen und interessiert niemanden mehr.« Viel wichtiger sei es, auf gesellschaftliche Strömungen zu reagieren und Themen wie die Kreislaufwirtschaft im Ökolandbau oder die Bedeutung von Bio-Projekten in entfernt gelegenen Anbaugebieten breit und offen zu diskutieren.
Mit Glaubwürdigkeit punkten
Das sieht Klaus Braun, Kommunikationsberater für den Bio-Fachhandel, ein wenig anders: Er hält die hohe Glaubwürdigkeit der Bio-Läden, allen voran der inhabergeführten Geschäfte, für ein wichtiges Pfund, mit dem es zu wuchern gelte. »Dieser Vertrauensvorschuss sollte genutzt und gegen den Preisdruck gestellt werden.« Mit großem Selbstbewusstsein müsse vermittelt werden, dass die Bios eben nicht nur Lebensmittelhändler sind, sondern auch gesellschaftspolitische Akteure, denen ökologische und soziale Werte am Herzen liegen – und immer schon lagen.
»Lange hat man vergessen, diese Grundhaltung erkennbar herauszustellen, Professionalisierung ging über alles.« Jetzt sei es an der Zeit, wieder mit breiter Brust darauf hinzuweisen – und darauf zu vertrauen, dass das auch neue Kunden interessiert. Braun ist zuversichtlich: »Vom Vegan-Hype vor zwei bis drei Jahren hat der Biohandel auch profitiert, obwohl das eine junge Klientel ist, die sich nicht primär für Bio interessiert. Aber die Leute wussten, dass es der Fachhandel ernst meint und qualitativ gute Produkte ohne Pestizide und Gentechnik anbietet.«
»Die Haltung macht den Unterschied«
2019 konnte der Bio-Fachhandel ein deutliches Umsatzplus von 8,6 Prozent verbuchen – einige sprachen daraufhin schon vom »Greta-Effekt«: Die junge Schwedin und die Fridays-for-Future-Bewegung hätten das Interesse für nachhaltig erzeugte Produkte deutlich wachsen lassen. Die vom Bundesverband Naturkost und Naturwaren initiierte Kampagne »Öko statt Ego«, die im Herbst vergangenen Jahres gestartet ist, kam da gerade zur rechten Zeit. Sie will eine starke Stimme für die sein, die Bio nicht nur im Aktionsregal, sondern auf dem Ladenschild haben – und die mit ihrem Engagement unterstreichen will, dass es nicht nur darauf ankommt, was gekauft wird, sondern auch wo es gekauft wird. Manuel Pick vom Kampagnenbeirat drückt das treffend so aus: »Die Haltung macht den Unterschied. Ohne Haltung ist ein Biomüsli bei Rewe auch nur irgendein Müsli.« Anders formuliert: Wer dort einkauft, wo das gesamte Sortiment aus ökologischen Produkten besteht – egal, ob im Hofladen, im traditionellen Bioladen oder im Biosupermarkt – tritt eben konsequent für eine andere Landwirtschaft und einen sorgsamen Umgang mit der Natur ein.
→ Birgit Schumacher