Lippenhaut ist besonders sensibel
Dass man sie braucht, steht außer Frage: Während die Gesichtshaut mit bis zu 16 Zellschichten aufwarten kann, sind es bei der Lippenhaut nur drei bis fünf. Sie enthält außerdem keine, beziehungsweise weniger, Melanozyten (Pigmentzellen). Deshalb wirken Lippen von Natur aus rot. Entscheidend für das Thema Pflege: Die Lippenhaut hat keine Schweiß- und nur vereinzelt Talgdrüsen. Deshalb kann sie nicht den Hydro-Lipid-Film bilden, also die Schutzschicht aus Schweiß und Hautfett, die unsere Haut am übrigen Körper schützt und geschmeidig hält. Also ist es einleuchtend, dass die Lippenhaut schneller austrocknet, spröde und rissig werden kann.
Problemstoffe zum Ablecken
Was fehlt, ist klar: Fett. Das ist folgerichtig auch die Zutat Nummer eins, wenn es um Lippenpflege geht. Bei der Frage was für Fett scheiden sich allerdings die Geister – und die Qualität. Konventionelle Lippenpflege enthält häufig Rohstoffe, die auf Erdöl basieren, wie zum Beispiel Paraffine. Über sie können sogenannte aromatische Kohlenwasserstoffe, auch MOSH oder MOAH genannt, in die Produkte geraten. Sie gelten als potenziell krebserregend. Problematisch können auch synthetische Lichtschutzfaktoren sein, denen hormonelle Wirkungen zugeschrieben werden. Hinzu kommen häufig noch Farb‑, Duft- und Aromastoffe. Bereits auf »normaler« Haut werden Wirkstoffe von Kosmetikprodukten zumindest zum Teil aufgenommen. Bei den Lippen kommt erschwerend hinzu, dass beim Ablecken, Essen und Trinken ein nicht unbeträchtlicher Teil der Lippenpflege verspeist wird – und das ist bei solchen Rezepturen keine leckere Vorstellung. Apropos ablecken: Bei trockenen Lippen ist es ein No-Go, denn die Feuchtigkeit verdunstet direkt wieder und die Lippen trocknen noch stärker aus.
Kein Suchtfaktor
Und was ist nun mit der sogenannten Lippenpflege-Sucht, gerne auch nach einem bekannten Produkt benannt? Die gibt es nicht, sagen Pflege-Expert:innen. Wer das Gefühl hat, ständig nachfetten zu müssen, hat einfach strapazierte Lippen – oder das Gefühl dafür verloren, wie sich Lippen natürlicherweise ohne Fettfilm anfühlen. Lippenprodukte mit Mineralölbestandteilen können dieses Gefühl verstärken, da sie sich wie ein undurchlässiger Film auf die Haut legen und sie versiegeln – ist der Film weg, fühlt sich die Lippenhaut erst recht trocken an.
Pflanzen pflegen
Besser zur Lippenpflege geeignet sind natürliche Öle und Wachse wie Sheabutter, Mandel‑, Oliven- oder Arganöl, Jojobaöl oder – allerdings nicht vegan – Bienenwachs. Die gesamte Palette der pflanzlichen Öle, gegebenenfalls ergänzt durch weitere Wirkstoffe kommt in zertifizierter Naturkosmetik zum Einsatz. So könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass Eure Lippen gepflegt und nicht versiegelt werden und »kein synthetisches Irgendwas« enthalten ist. Grenzgänger zwischen Lippenstift und Lippenpflege sind Stifte, die einen kleinen Anteil von Pigmenten enthalten und den Lippen so beim Pflegen gleich einen Hauch Farbe verleihen. Minimalist:innen verwenden einfach Kokosöl, Shea- oder Kakaobutter pur als Lippenpflege oder machen ihre Lippenpflege kurzerhand selbst – im Internet gibt’s jede Menge Rezepte.
Nachhaltig im Detail
Der klassische Lippenpflegestift steckt in einer Drehhülse aus Plastik. Das Produkt ist praktisch anzuwenden, optimal geschützt und bleibt es auch bis zum Ende. Für alle, die kein Plastik wollen, gibt es mittlerweile jede Menge Alternativen, zum Beispiel Lippenpflege in Papphülsen. Die funktioniert, auch wenn die Verpackung natürlich weniger stabil ist, zumal ein Lippenpflegestift ziemlich lange hält. Oder Ihr greift zu Lippenbutter oder ‑balsam im guten alten Tiegel oder Döschen – die sind dekorativ und praktisch, haben aber auch einen Nachteil: Das Produkt wird in der Regel mit dem Finger aufgetragen, so können leichter Keime hineingelangen (da Lippenpflege in der Regel sehr fetthaltig ist, ist das Verkeimungsrisiko aber geringer als bei sehr wasserhaltigen Produkten). Ob klassischer Lippenpflegestift oder Pflege im Döschen: Im Naturkosmetik-Regal findet Ihr alle erdenklichen Rezepturen für jeden Geschmack – die hat man ganz ohne Sucht immer gerne dabei.
Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 95 — Sommer 2022