Die Sonne scheint, wir passieren Hamburgs Speckgürtel und nähern uns unserem Ziel: Da ist schon das Erdbeerfeld, auf dem Bio-Erdbeeren selbst gepflückt werden können. »Hoffentlich haben wir dafür nachher noch Zeit«, sagt Brita sehnsüchtig. Das gesamte Bioboom-Team hat sich heute auf den Weg gemacht: Betriebsausflug nach Gut Wulksfelde, Demonstrationsbetrieb Ökologischer Landbau und mehrfach ausgezeichnet als bester Bio-Händler Europas 2023. Moment mal, wieso Handel? Und da sind wir auch schon mitten drin in dem erstaunlichen Phänomen Gut Wulksfelde: Hier wird Bio in allen Facetten erlebbar — vom Acker bis auf den Teller, beziehungsweise in den Einkaufskorb.
Praktizierte Ökologie in der Buchsbaumhecke
Wir sind verabredet mit Matthias Gfrörer, der gemeinsam mit seiner Frau Rebecca und einem engagierten Team das auf dem Gut angesiedelte Restaurant Gutsküche betreibt. Er wird uns heute nicht nur »seine« Gutsküche, sondern den Betrieb als solchen zeigen. Während wir einen Begrüßungs-Espresso auf der Terrasse trinken, plaudert Detlef derweil mit der freundlichen Mitarbeiterin, die gerade das bunte Blumenbeet davor pflegt, denn er ist neugierig geworden: Wie kommt es, dass hier eine saftig grüne Buchsbaumhecke steht, wo der Buchsbaum doch bundesweit vom Buchsbaumzünsler dramatisch dezimiert wird? Ganz einfach, erfährt er: Die dichte Hecke ist Treffpunkt für so viele Spatzen und Meisen, dass der Zünsler hier direkt rausgepickt wird und schlicht keine Chance hat — praktiziertes ökologisches Gleichgewicht und typisch für ökologisches Gärtnern, wie wir gleich erneut sehen werden.
Bunte Blumen zwischen Gemüsereihen
Unsere Runde startet in der Gemüsegärtnerei. Auf einer Fläche von 10 Hektar Freiland und in über einem Dutzend Gewächshäusern wachsen und gedeihen hier Bio-Gemüse, ‑Salate und ‑Kräuter, jeweils nach Saison. Wir bestaunen den üppigen Mangold mit seinen bunten Stielen, die leuchtend grünen Petersilienbüschel, die akkurat in Reih und Glied stehen, atmen den intensiven Duft im Tomaten-Gewächshaus, wo gerade die ersten roten Früchte geerntet werden können. Mittlerweile hat sich Felix Holst zu uns gesellt, zuständig für die Gemüsegärtnerei, die er als Nachfolger von seinen Eltern übernehmen wird. Während wir durch die Gewächshäuser gehen, fällt uns auf: Vor den Reihen und auch immer mal wieder zwischendurch leuchten bunte Sommerblumen. Das hätten wir in einer Erwerbsgärtnerei nicht erwartet. Felix lächelt: »Die haben schon ihren Sinn, weil sie zusätzliche Diversität und Raum für Nützlinge schaffen. Das hilft uns, zum Beispiel Blattläuse in Schach zu halten.«
Nicht auf, sondern mitdem Boden arbeiten
Das ist wichtig, denn chemisch-synthetische Spritzmittel sind auf Gut Wulksfelde selbstverständlich ebenso tabu wie Kunstdünger. Wir wollen wissen, was das für seine tägliche Arbeit bedeutet: Wäre sein Leben mit den Möglichkeiten der konventionellen Agrarchemie nicht viel einfacher? Er schüttelt den Kopf. »Also, wir verfolgen im ökologischen Anbau einfach einen ganz anderen Ansatz als konventionelle Betriebe. Bei uns steht der Boden, die Qualität, die er hat, im Mittelpunkt. Man könnte auch sagen, dass wir nicht auf dem Boden, sondern mit dem Boden arbeiten. Wir wollen, dass der Boden das Gemüse ernährt und dafür müssen wir ihn in seiner Lebendigkeit fördern und erhalten«, erläutert Felix.
Das Ziel sei es, auf dem Land langfristig Gemüsebau betreiben zu können, ohne den Boden zu ermüden. Dazu trage eine sorgfältige Bearbeitung bei. »Wir fuhrwerken möglichst wenig im Boden rum. Wir arbeiten minimalinvasiv und vermeiden es, Bodenschichten untereinander zu vermischen und dabei die Strukturen zu zerstören, die sich aufbauen, wenn der Boden seine Ruhe hat und sein eigenes Leben entwickeln kann. Das tut dem Boden gut und im Endeffekt tut das dann auch den Erträgen gut, weil wir dadurch zum Beispiel eine hohe Regenwurmdichte und viel, viel bessere Bodenlüftung haben.« Sorgfältig abgestimmte Kulturfolgen, passend zu den jeweiligen Böden, seien ebenfalls ein wichtiger Faktor. »Wenn wir dann ›on top‹ noch zusätzliche Nährstoffe brauchen, greifen wir zu pflanzlichen oder tierischen Abfallstoffen, die wir häufig direkt auf dem Hof oder von benachbarten Bio-Betrieben bekommen können.«
Viele Tiere, viel Freiraum
Zum Beispiel von den Hühnern: Von den Gewächshäusern aus können wir die Mobilställe sehen, die die Legehennen der Sorte Lohmann Braun beherbergen. »Rund 4.000 Tiere, jede Menge Freiraum, null Stress«, sagt Matthias stolz. Sie legen fast jeden Tag ein Ei, nach 15 Monaten geht die Legeleistung nach unten und sie enden als Suppenhühner, die über den Hofladen und Lieferservice vermarktet werden. »Das klingt hart«, gibt Matthias zu, »aber die Frage ist, würde so ein Huhn in freier Wildbahn wesentlich älter werden?«
Die Tierhaltung ist ein wichtiger Bestandteil sowohl des ökonomischen als auch des ökologischen Konzepts des Wirtschaftens auf Gut Wulksfelde, erläutert Matthias, während wir zu den Schweinen weitergehen. Wie alle anderen Besuchenden müssen auch wir leider draußen hinter dem hohen Zaun auf Abstand bleiben — zu groß ist die Gefahr der Übertragung von Krankheiten wie der Schweinegrippe und Maßnahmen wie vorbeugende Antibiotikagaben sind in der Bio-Tierhaltung verboten. Trotzdem sehen wir: Wie die Hühner dürfen auch die Schweine ein artgerechtes Leben mit Freiraum führen — sogar eine Schweinedusche zur Abkühlung im Sommer ist im Auslauf vorhanden. »Wusstet Ihr, dass Schweine ausgesprochen saubere und ordentliche Tiere sind, die ihre Lebensbereiche fein säuberlich getrennt halten, wenn sie genug Platz haben?«, fragt Matthias. Auch die Rinder und die Mutterkühe mit ihren Kälbern stehen auf weitläufigen Weiden.Sogar die Ziegen im Streichelgarten können selbst bestimmen, ob und wie nahe sie den interessierten Besuchenden kommen möchten, oder ob sie sich gerade lieber in ihren »Privatbereich« zurückziehen möchten.
Auch betriebswirtschaftlich muss es stimmen
Die Tiere werden mit Respekt, aber ohne Sentimentalität behandelt — Eier und Fleisch sind ein wichtiger Bestandteil des wirtschaftlichen Outputs. Es ist eine Kombination von Überzeugung und gesundem Realismus, die hier gelebt wird. Bei aller Freude und Überzeugung, die wir in den Gesprächen immer wieder spüren, ist trotzdem klar: »Die Payroll muss raus, und das jeden Monat«, wie Matthias lapidar sagt. Ob Gemüsegärtnerei, Landwirtschaft, Bäckerei, Hofladen, Restaurant oder Lieferservice: Es reicht eben nicht, ein ökologischer Vorzeigebetrieb zu sein. Hier arbeiten rund 240 Menschen, Gut Wulksfelde muss und soll sich ökonomisch tragen. Dass das funktioniert, dafür sorgen immer wieder neue Ideen: »Während der Corona-Pandemie, als das Restaurant geschlossen war, haben wir ein Konzept für einen Deli-Shop entwickelt, aktuell bin ich an einem Konzept für die Brotverwertung dran«, erzählt Matthias. 80 Prozent der Erzeugnisse des Hofs werden direkt verarbeitet und vermarktet: Die Landwirtschaft liefert Getreide für die Bäckerei und Futter für die Tiere. Gemüse und Kräuter, Brote, Fleisch und Wurst werden im Hofladen (der vom Format her eigentlich ein Bio-Supermarkt ist), auf den Wochenmarktständen der Gärtnerei und natürlich über den Lieferservice vermarktet. Das hat nicht nur den Vorteil der Regionalität und kommt bei Kund:innen gut an. Es trägt auch zu einer höheren Wertschöpfung und damit zur ökonomischen Tragfähigkeit bei.
Gemüseküche auf höchstem Niveau
Unsere Führung endet in der Gutsküche. Auf diesen Teil unseres Besuchs hat sich unser foodbegeistertes Team besonders gefreut. Das Restaurant ist nicht nur bio-zertifiziert, sondern auch mit einem Grünen Michelin Stern ausgezeichnet. In der Küche ist Gemüse der unbestrittene Star — alle Gerichte auf der Karte sind vegetarisch und werden auf Wunsch gerne und ohne Umstand veganisiert, Fleisch und Fisch sind hier Beilagen, die optional zugebucht werden können. Wir genießen unser »Zuckerschoten-Gersten-Risotto mit Pfifferlingen, Spargelspitzen, Zitrus-Hüttenkäse und Kerbel« beziehungsweise »Gebrannten Sellerie à la Niçoise mit wilden Tomaten, Oliventapenade, Rauke und Balsamjus«, Sophie freut sich, dass sie ganz selbstverständlich auch glutenfreies Brot bekommt. Das Team in der Küche ist international, hier sammeln ausgelernte Jungköche ebenso Erfahrung wie Bachelorstudierende aus dem nahegelegenen Hamburg. Zwar sind die Preise für das, was hier geboten wird, noch moderat, aber dennoch — gehobene Bio- und Sterneküche auf einem Öko-Betrieb, kann das funktionieren?
Für eine bessere Lebensmittelwirtschaft
»Natürlich bieten wir in der Gutsküche ein besonderes kulinarisches Erlebnis«, sagt Matthias. »Aber grundsätzlich sind gute Lebensmittel doch nichts, was man sich nur zu besonderen Anlässen gönnt.« Hier auf Gut Wulksfelde bemühen sie sich seit Jahrzehnten, Menschen von Bio zu überzeugen, »es ist nicht einfacher geworden, auch nicht bei den Gästen, die durchaus Geld haben.« Das Thema ist dem Spitzenkoch wichtig, er wird leidenschaftlich. »Eigentlich ist das ganze System der Lebensmittelerzeugung krank«, findet er und ärgert sich, dass die EU zum Beispiel erlaube, Lebensmittel unter dem Erzeugungspreis zu verkaufen. In der aktuellen Situation habe es Bio argumentativ nicht leicht: »Mit ›Farm to Table‹ können wir im Moment mehr Menschen überzeugen, als mit ›Bio‹«, stellt er fest.
Wir gönnen uns noch einen Verdauungsspaziergang über das weitläufige Gelände, das für große und kleine Besuchende mit Freiflächen und Spielwiesen, Schaukeln und Bänken bewusst einladend gestaltet ist.
Und natürlich machen wir noch eine Runde durch den Hofladen. Es ist schon früher Abend, als wir wieder gen Hannover rollen. Wir sind uns einig: Gut Wulksfelde zeigt eindrucksvoll, wie ökologisches Wirtschaften entlang der Wertschöpfungskette aussehen kann — es ist nicht »nur« ein Demonstrationsbetrieb, sondern ein echtes Vorzeigebeispiel.